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Heiligabend – Odyssee 2023

Frau Müller kam zu spät zu Famila. Grund war eine Laufmasche. Zuerst haderte sie mit sich, „Kann ich so raus? Wirklich? Geht das? Ja, nein oder doch?“ Als Ehemann Christoph laut zu denken begann, „So kannst du unmöglich vor die Tür!“, nahm der Tag Fahrt auf.

„Mist!“, stöhnte sie,

als ihr die gähnende Leere ihres Kleiderschranks ins Gesicht schrie, nachdem sie sich ein weiteres Mal hat breitschlagen lassen. „Alles in der Wäsche!“ Sie ärgerte sich, dass sie wieder nicht auf ihre eigene Intuition hörte, weswegen sie sich

zangenschnell für Hose umentschied!

Zugegeben, es könnte Zeitknappheit gewesen sein, oder ein anderer Gedanke, der sie anspornte, schnell, effizient, praktisch, eine gute Hausfrau, Mutter und Ehefrau zu sein. Als sie sich mit entschlossenen kräftigen Bewegungen die Nylonstrumpfhose von der Hüfte riss,

geschah es!

Ihr angebrochener Fingernagel des kleinen Fingers riss schmerzhaft ab, laut schrie sie auf! „Scheiße! Verdammt noch Mal!“ Kaum hatte sie zu Ende geflucht, verhedderte sie sich mit ihrer Gazellenkeule und blieb wirkungsvoll zwischen Knie.- und Hüft-Teil der Strumpfhose stecken.

Mehrmals hüpfte sie herum,

bis sie das Gleichgewicht verlor und am Ende wie ein gefällter Baum lang hinschlug. Doch damit nicht genug. Sohn Jakop hatte kurz zuvor im elterlichen Schlafzimmer gespielt, als er einen plötzlichen, aber nicht unbekannten

Reiz im Unterleib verspürte,

der ihn daran erinnerte, dass er seit Neuestem dafür zur Toilette ging. Vorbei die Zeiten, wo er auf dem Frühstück saß, bis es kalt in der Windel wurde. Mutterseelenallein träumte der Lego-Technik-LKW in der Nähe des Kleiderschranks.

Während Frau Müller mit der Nylonstrumpfhose

herumtanzte trat sie zuerst auf einen der kleinen Legosteine, die als bevorzugtes Ladegut beim euphorischen Hineinschütten von Sohnemann danebengegangen waren und unverdächtig auf dem Boden schlummerten.

„Ahhhh! Aua! Aua! Fuck! Fuck!“

Mit Nachdruck bohrte sich der kantige Plastikstein in ihren empfindlichen, sonst so sorgfältig gepflegten zarten Fuß. Außer sich vor Zorn sprang sie rum, bis sie auf dem kleinen Bettvorleger trat, der auf dem frisch gebohnerten Holzfußboden zum fliegenden Teppich mutierte,

dass Frau Müller zu Boden ging

und mit dem Gesicht voran, munter, frisch fromm fröhlich und frei, in die geparkte Ladefläche des Lego-Lasters hineindonnerte! Krachend brach der LKW unter der Wucht des 1,72m großen Vorzeige-Zebras entzwei.

Zuerst sah Bambi Müller Sterne.

Dann spürte sie, wie ihr Gesicht anschwoll. Ihr blutender Finger mit dem abgerissenen Nagel hatte auf ihren Oberschenkeln beeindruckende Blutspuren hinterlassen, dass jede Schlachterei vor Neid erblassen ließ. Stöhnend kam sie auf die Knie und sah in den

Spiegel der Kleiderschranktür,

mit dessen Hilfe sie sich kurze Alltagsfreuden verschaffte, wenn es mal wieder drängte. Doch anders als sonst, wenn sie sich um den Süden ihres Körper kümmerte, leuchtete jetzt ein quadratischer blutunterlaufender

Abdruck in ihrem Gesicht,

als wäre sie ungebremst mit einem Mülleimer, Briefkasten oder einer mittelgroßen Tupperdose zusammengeprallt. Schon liefen Tränen des Zorns. Wütend stolperte sie aus dem Haus, wobei sie fast die Treppe runtergefallen wäre, donnerte mit letzter Kraft die Haustür zu,

rannte zum Auto,

startete wild entschlossen den Kombi aus Ingolstadt und brauste mit leicht durchdrehenden Winterreifen zum nahen Famila-Markt, dass die vielen Warnlampen der elektronischen Helferchen ihr Cockpit

wie ein Christbaum leuchten ließen!

Nur kurz blendete die ultragrelle Weihnachtsdekoration der Nachbarn, die durchaus Las Vegas Hotelbeleuchtungen Konkurrenz hätte machen können, jedoch lang genug, um ihre Augen

eine kurze Zeit

unscharf sehen zu lassen, dass sie mit dem rechten Vorderrad den Kantstein so stark rammte, dass ihre Lenkung von da an leicht vibrierte, was bei zunehmender Geschwindigkeit schlimmer und schlimmer wurde.

„Arghhhhh!“,

schrie sie aus Leibeskräften! Fast hätte sie die rote Ampel, samt Fußgänger übersehen. Nur wenige Meter vor dem Zebrastreifen kam sie zum Stehen. Als sie aufsah, blickte sie in ernste Gesichter, deren Träger den Vorwurf samt Köpfe schüttelten.

Längst leuchtete es wieder grün,

was sie am Hupkonzert hinter sich bemerkte. Wie eine Hafenbarkasse schlingerte ihr Auto durch den Ort. Ständig kämpfte sie mit Tränen, besonders dann, wenn sie im Spiegel den purpurfarbenen Abdruck bestaunte, der wie ihre Stimmung stetig dunkler wurde.

14:40

Aufgelöst humpelte sie über den Parkplatz. Schneeregen peitschte sie durch. Fast wäre sie gegen die langsam öffnende Glastür gelaufen, um zielstrebig zum kleinen Postladen im Famila-Markt abzubiegen, als die Dame hinterm Tresen das Schild „Geschlossen!“ aufstellte.

„Was? Nein! Nicht wirklich, oder?“

„Samstags bis 14:30“, lächelte die aschblonde Lady hinterm Tresen, deren Extensions genauso farblich perfekt abgestimmt leuchteten, wie der frisch geschnittene Pony, der an den Vokuhila-Haarschnitt von Klaus Augenthaler und Rudi Völler aus den 80igern erinnerte.

Da begannen Frau Müllers Mundwinkel zu zucken.

Nach wenigen Sekunden gesellten sich ihre Beine dazu. Lautlos schreiend drehte sie auf der Hacke um, rannte zum rettenden Wagen, preschte mit Rallye-Tempo nachhause, stürmte das Haus, zerrte eine Flasche Becherovka aus der Bar,

rannte zum Kühlschrank,

riss Eiswürfel aus der schlafenden Plastikverpackung, goss Tonic hinzu, leerte das große Cocktailglas in einem Zug, unter den staunenden, größer werdenden Augen des Gatten, der in der Küche still und zufrieden in seiner Zeitung schmökerte,

machte sich sofort

daran ein Zweites zu mischen, hörte im Hintergrund die weihnachtlichen Kirchenglocken, holte tief Luft und tat, was ihr lange überfällig erschien, den Ehemann liebevoll zusammenzuschreien, bevor er wieder ungefragte Tipps und Kommentare zum Besten gab:

„Halt’s Maul!“

13.Novem-bär – Druiden Mission – Odyssee 2022

Viele sagen, ich bin‘ Optimist; meine Fröhlichkeit würd‘s verraten; immer könne ich positiv denken; ein Beispiel; vor ein paar Tagen in der Siedlung, ein Nachbar paar Häuser weiter, der Erste in der Einbahnstraße neben dem Kinderspielplatz, mit den feuerverzinkten Stahlspielsachen, deren Fundamente tief in die Erde gelassen sind,

wie die geschändeten Frauenleichen in Ciudad Juarez;

ich kam gegen 11:32 vom Laufen zurück, als er mit Gartenschlauch bewaffnet im Schatten seiner Birken nassen Rasen wässerte; nie würde ich denken, dass er seine Frau über Nacht fachmännisch zerlegt hat und seelenruhig – wie Mr.Wulf in Pulp Fiction – letztes Blut vom Rassen schwämmt; stattdessen meinte ich Reste von Blumentopferde gesehen zu haben.

Vermutlich pflanzte er Yucapalmen um, oder andere Gewächse.

Bestimmt wollte er nur seine gleichmäßige Grünfläche wiederhaben; wäre sonst ja ‘ne Grünbraunfläche und das sieht ja nicht aus; muss ja alles seine Ordnung haben; man kann da nicht einfach so hopp-hopp – das geht doch nicht.

Aber Mord, hier in der Siedlung?

Natürlich ist er seit Jahren auffällig; vielleicht ein wenig verrückt, aber – alltagstauglich; wie sonst nennt man Menschen, die sich freiwillig mit hochwertigen Luxus-Gartenzäunen aus latexbeschichtetem Stahlgittern und Edelstahlschrauben Marke V4A einsperren, das man an Gefängnisse denkt.

Raussehen kann er aber noch.

Ein paar Straßen weiter hat‘n Anderer ’ne pechschwarze 3m Holzwand hingezimmert; von seiner Terrasse hat er vielleicht 4 bis 5 Meter Abstand zur neuen Grenzmauer, zwischen Nachbar Ost, West, Süd und Fußgängerweg; verrückt sicherlich, auch er, aber eben – alltagstauglich.

Natürlich sind‘s keine Mörder wie in der mexikanischen NAFTA-Stadt.

Schön sind auch die Porzellan-Dalmatiner in der Einfahrt des zweiten Nachbarn Richtung Norden; ham‘ sich ‘ne ganze Familie Keramik-Wauzis in die Auffahrt gestellt, die Freunde, Postboten und Fußgänger willkommen heißen;

Mein Kumpel F. sagt,

letztendlich ist‘s egal, ob‘s Gartenzwerge, Dalmatiner, Terrakottavasen oder fancy-aussehende Vintagedesign-Holzdekorationen sind; von schlecht bezahlten Kinderhänden zusammennagelte Holzprodukte, die Surfwellen oder hauseigene Barbecue-Regeln verkünden.

Alles irgendwie schräg, vielleicht verrückt.

Für mich sind‘s eindeutige Zeichen für Geschmack und Wohlstand; so wie die vielen Hundewarnschildern, Alarmanlagen, Radaranlagen-Attrappen und insel-mainau-mäßig-gepflegten Gärten, mit herrschaftlichen Auffahrten, die frei von jeglichem Grashalm sind und mit derartig akkuraten und hohen

Pflegestufe vorfahren, dass man andächtig – schweigt.

Oder schwelgt; doch all das will ich nich‘ erwähnen, darüber kann man Roman-Serien schreiben; aber Mord? Hier bei uns in der Siedlung? Schwer vorstellbar. Ist man heutzutage Optimist, wenn man sich für die Mitmenschen mitfreut, nur weil die‘s sich mit Kolonialwaren gutgehen lassen?

Finde ich nicht.

Interessanterweise erlebe ich mich selber als rückständig, wenn ich mich in der Nachbarschaft umsehe; da werden Beleuchtungen über Smartphone-Apps gedimmt; sogar die Farben kann man über solche „Apps“ ändern; haben Glühbirnen heutzutage etwa verschiedenfarbige Wolframwendel, die man über Funk ansteuert?

Wie krass ist das denn!

Oder Überwachungskameras, die man – natürlich auch über ‘ne App – ansteuert und jederzeit sieht, wer sich seinem Besitz nähert; Bewegungsmelder, die stadion-mäßisch ausleuchten, auch wenn’s Nachbarkatzen, oder Zweige sind, die sich sanft im mittlerweile fast klimaneutralen

lauwarmen Schleswig-Holsteinischen Wind wiegen.

In unserem Pueblo auf Mallorca geht‘s zurzeit auch hoch her; dort ist man ‘nen Schritt weiter; der positive Einfluss der deutschsprachigen Langzeit-Touristen macht sich wohltuend bemerkbar; längst gibt‘s dort Max-Bahr-Baumärkte, sowie Husquarna und Stiehl-Niederlassungen, damit auch Inselfincas mit Hand und Fuß,

biodynamisch bewirtschaftet werden.

Vor kurzem hat unser Dorf-Druide sich zu ’nem innovativen Projekt überreden lassen; hat ‘ne Mission für Ägypten angenommen; sein Wissen, noch dazu seine 7 Sprachen, die er verhandlungssicher spricht sind – man höre & staune – weltweit bekannt. Ob es Chemtrails, oder drohende Weltwirtschaftskrisen sind – überall ist er mit dabei,

und zwar an vorderster Front.

Seine neuste Mission wird ihn mit führenden ägyptischen Industriellen, sowie dem mexikanischen Außenminister auf ‘nem Klima.- und Energiegipfel zusammenbringen; ich freue mich riesig für ihn, dass er endlich die Anerkennung bekommt, die er schon seit Jahrzehnten verdient.

Man wird ihm dort die Pläne von Mexicos Präsident AMLO vorstellen.

Übersetzer und Projekt-Partner sind nur die Spitze seines Eisbergs; sein Wissen ist so allumfassend, dass ich ihn oft auch respektvoll – den Alchimisten – nenne; dass ich mich geehrt fühle, solch ein Super-Talent zum Kumpel zu haben, versteht sich von selbst.

Hab ihm angeboten einzuhüten,

bis er von seiner geopolitischen Mission mit sei’m Partner zurückkommt; gehört sich so unter Freunden; vielleicht erlebt man mich deswegen als Optimist; solche Menschen haben positiven Einfluss; und natürlich find ich‘s großartig dass er Wissen und Erfahrung einbringt; solche Talente muss man unterstützen.

Wir haben viel zu wenige davon!

Angeblich wird er als heißer Kandidat für die anstehenden Verhandlungen zwischen Putin und der Ukraine gehandelt; würde mich nicht wundern, wenn er von Kairo direkt weiter nach Moskau fliegt, bevor er sich dann – endlich – mit seinem Kumpel AMLO in Mexico trifft.

In der Zwischenzeit überwachen wir unsere Siedlung,

damit die vielen grimmig-aussehenden Gestalten keinerlei Unfug treiben, weder mit fremdem Besitz, noch auf unseren Straßen, die wir mit unserem Geld bezahlen; unserem Geld, dass wir im Schweiße unseres Angesichts – jawohl, dass sage ich in aller Deutlichkeit – verdient haben!

Jetzt hau ich mir ers’mal’n Steak auf den Grill…

11.September – Zwei Türme – Odyssee 2022

9/11 erinnert jeder. Besonders die Bilder. Wie’n Hollywood-Film. Nicht ganz ernst zu nehmen, aber – beeindruckend. Nur war diesmal alles „echt“, allerding ohne Tom Cruise und Mel Gibson. Stunden blieb ich in Aufruhr. Ich glaube es war Ulli Wickert, der in‘ner Sondersendung davon berichtete. Gerade machte ich Besorgungen in Ahrensburg.

Einfach unglaublich, dachte ich!

Ich zog meine Freundin am Ärmel, „Warte Süße – schau mal!“, „Was denn?“, ich zog stärker, „Na, der Wickert da – schau mal die Bilder!“. Mit offenem Mund standen wir vor riesigen Bildschirmen der Elektronik-Abteilung von Nessler Ahrensburg.

Doch da stecke viel mehr dahinter, als ich zuerst begriff.

Im Nachhinein erschütterte es mich ähnlich, wie der 24.Februar 2022. Beide Events sind nicht vergleichbar und doch sind sie es, weil beide für mich als unvorstellbar und unwünschbar galten. Ist wie mit uns Menschen. Jeder ist ein Niemand und doch hat jeder moralische Pflichten, sein Menschenmöglichstes zu tun.

Wer / Was sonst?

Mit RU ging’s mir ähnlich, und doch ging ich leichter darüber hinweg. Liegt am Alter. Man hat mehr Bücher gelesen und mehr erlebt. Man wundert sich und doch tut man es überhaupt nicht. Menschen sind zu Allem fähig.

Wie mein damaliger Nachbar.

Nie werde ich vergessen, wie er bei dreißig Grad im Schatten mit Gasbuddel und Flammenwerfer das Unkraut seiner Auffahrt verbrannte. Einzelne Teil-Elemente, dieses menschlichen Gesamt-Kunstwerkes sind bereits ikonenhaft.

Als er dabei aus Versehen unsere Grenzhecke

niederbrannte und die Flammen auf den benachbarten Wald überschlugen, dass unsere Feuerwehr zum Großeinsatz ausrückte, ließ mich staunen. Gewundert hat’s mich aber nicht. Wochen später klingelte er an der Tür. Er schlug vor, ‘ne neue Hecke zu pflanzen und die Kosten aufzuteilen. Ich fand die Idee super.

Meine Freundin – begrenzt.

Wir saßen am Abendbrottisch, als es an der Tür klingelte. „Schatz, gehst du?“, wie immer, „Gerne, Süße!“. Ich öffnete die Tür mit einer weit ausholenden Geste. Freudestrahlend stand da unser Firestarter. „N’abend Günther, wie geht’s dir?“ Ich roch seine Bierfahne. Manchmal lud er zum Jever ein, rief dann über’n Zaun. Wir quatschten Stunden.

„Ja-ja, danke – und selbst?“

Ihn interessierte es wirklich. Ich sah nach hinten und lächelte ihn offen an, „Muss ja, kennst ’es ja…“ Er verstand meinen Humor, den ich einsetzte, um Eis und Formalien zu brechen. Seine Haare erinnerten an Lex Barker in grau, seine Figur eher nicht. Seine an den Knien ausgebeulte Jeans nutzte er im Garten, die seinen verjährten Leistenbruch unübersehbar präsentierte.

Seit Jahren ging das schon so.

Langsam schoben sich Bauch und Gemächt unterm Gürtel hindurch, das es aussah, als hätte er Hosentaschen und Unterhose mit Murmeln und einer nicht mehr ganz erntefrischen Karotte bis zum Bersten gefüllt. Seine erdverkrusteten Hände blieben auch nach Minuten gekrümmt, als hätte er eben gerade seine zwölft geliebten Trompetenbäume umgetopft.

„Sag mal, wollen wir ‘ne neue Hecke pflanzen?“

Wunderbar, wie immer ohne Umschweife. Mittlerweile hatte ich mich an die abgebrannten Stubben und die restlichen traurigen Überreste gewöhnt. Irgendwie hatte das was. So wie die Nikolai-Kirche, die aussieht, als wäre sie erst gestern verbrannt. Ich kratzte mein Kinn, runzelte die Stirn und nickte ernst, um neutrale Offenheit zu signalisieren. „Hm, klingt ganz vernünftig“, gab ich ehrlich zurück.

Günther lebte alleine in seinem großen Haus.

Sein Garten hatte ’nen eigenen Wald, den er mit uns teilte und eine lange, wunderschön gewundene Auffahrt. Ständig war er zu Gange. Wenn er nicht auf sei‘m Traktor saß, Holz hackte, Bäume pflanzte, sein Haus renovierte oder einen Großbrand verursachte, saß er vorm Fernseher und trank abwechselnd Bier und Remy Martin. Zwei Söhne hatte er gezeugt. „Beides Nieten!“, sagte er gerne. „Reisen rum und verprassen meine Kohle!“

Günther wollte Opa werden.

„Ihr könnt ja mal drüber nachdenken und wir schnacken die Tage, okay?“ Ich mochte seinen Vorschlag. Auch die Art, wie er ihn vortrug. Immer ließ er Raum, um sein Gesicht zu wahren und genug Zeit sich Gedanken zu machen. Diskretion und Höflichkeit waren ihm wichtig.

Ich mochte Günther.

Leise schloss ich die Tür und ging zurück zum Tisch, wo meine Freundin mit den Fingern trommelte. „Und? Was wollte er…? Wunderbar, wie immer ohne Umschweife. „Günther schlägt vor, dass wir ‘ne neue Hecke pflanzen…“, sagte ich und blickte schuldig auf den Teller vor mir. Es würde ein langer Abend werden. „Schön, dass er das einsieht; ich habe wenig Lust mir noch länger dies verkohlte Skelett anzuschauen…!“

Ich gab mir einen Ruck.

Nun kam der schwere Teil. „Günther schlägt vor, dass wir uns die Kosten teilen.“ Was nutzte es, länger drumrumzureden? Indirekte Ansprache mochte sie nicht besonders. Endlich war es raus. Schon zogen dunkle Wolken auf. Langsam senkte sie den Kopf, wie ein Stier der einen auf die Hörner nehmen will.

Dabei ist sie Jungfrau.

Schon zogen sich die Augenbrauen zusammen und bildeten ein stolzes Vau. Ihre Mundwinkel sanken weit hinunter und zuckten unruhig. Lange konnte es nicht mehr dauern. Als ihre Hände sich am Kopfende abstützten war es soweit.

„Was? Ist Günter nicht ganz bei Trost?“, ich ahnte es.

Sie war nicht überzeugt. Es ging weiter. „Erst verbrennt er sie, beinahe samt seiner Reetdachvilla und unserem gemeinsam Wald – was nur deswegen verhindert wurde, weil wir ihm mit Gartenschläuchen halfen – und jetzt will er eine neue pflanzen,

die WIR mitbezahlen?“

Beim „wir“ zuckte ich zusammen. Sie fauchte förmlich. Das konnte was werden. Ich dachte an Henry Kissinger und Helmut Schmidt. An Franz-Joseph Strauss und Herbert Wehner. Wie schafften die es zusammenzukommen? „Was hast du dem Traumtänzer geantwortet…?“ Wunderbar! Schöne Abkürzung, dachte ich. „Nun….“, ich suchte meine Worte zusammen, „Ja, ich höre..?“, sie konnte eine Kreissäge sein. „Nun, ich fand seinen Vorschlag ganz vernünftig; schau mal, wenn er die Hecke…“

Weiter kam ich nicht.

Schon rollte ein Tsunami an. „Wir zahlen keinen Pfennig, damit das klar ist!“ Sie war die geborene Diplomatin. „Magst du Günther…?“ Ich wollte ihr helfen sich wieder abzukühlen. „Was soll DIE Frage denn jetzt?“ Ich setzte nach. „Wir haben doch ‘ne tolle Nachbarschaft mit ihm…“ Sein Möglichstes sollte man immer versuchen, dachte ich. Meine Feststellung sollte sie einladen, die Straßenseite zu wechseln.

Mal schauen, dachte ich.

„Natürlich, Gott sei Dank, warum kommst du jetzt damit…?“ Sie begann sich neu zu erhitzen. „Schau, Süße…“ Sie zeigte ihre Kralle,n „komm mir nicht mit Süße!“, eigentlich ist meine Freundin ganz anders, sie hat nur wenig Möglichkeit es zu zeigen. „Wir können doch erst mal abwarten, was rauskommt; wegen 300 Ocken eine freundschaftliche Nachbarschaft zu gefährden fände ich ziemlich unklug, meinst du nicht?“

Endlich! Das saß.

Sie kaute einige Zeit drauf rum. Waren ihre rauchenden Colts leergeschossen? Noch schien die Gefahr nicht gebannt zu sein. Man brauchte Geduld mit ‘nem Cowgirl. Ihre Gesichtszüge wurden weicher. Langsam schob ich ein vorsichtiges Lächeln über mein Gesicht. Sie kniff ihre Augen zusammen. Ein Anflug Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Manchmal bringst du mich WIRKLICH aus der Fassung…“

Das hatte ich schon mal gehört. Aus ihrem Mund klang es schön. Fassung verlieren, ist was Angenehmes. Nach den richtigen Worten suchend, legte ich mir ein paar Gesichtszüge zurecht, die nicht zu frech, aber auch nicht zu unverbindlich aussahen. „Es scheint mittelfristig, insbesondere von den Auswirkungen, sehr angenehm und positiv zu sein…“

Augenzwinkernd stand ich vom Tisch auf und schenkte Wein nach…

26.Juni – Tartaros – Odyssee22

Mein Kumpel Ede ist gestürzt; Ellenbogen und Nase sind verletzt; aus einer Unaufmerksamkeit heraus dachte ich, lag aber woanders dran; seine Frau rief den Notarzt, jetzt liegt Ede im Krankenhaus, Diagnose 2,0 Promille; fand sogar er beachtlich, wie er am Telefon sagte; lange haben wir telefoniert, über eine Stunde; Ede hat ‘ne Menge Kummer und greift deswegen zur Flasche; genau das geht mir an die Nieren; Ede lebt lang genug und hat ausreichend Gründe,

dass es ihm jetzt richtig Scheiße geht.

Nur Ignoranten*innen, Alpha-Vollpfosten*innen und Dummbeutel*innen kapieren‘s nicht. Man kann unmöglich 50 werden, ohne nicht mindestens 10 Mal gezweifelt und 5 Bauchlandungen hingelegt zu haben. Wieviel ist genug? Wieviel zu wenig? Wieviel zu viel? Wie kann man all das wissen, ohne auszuprobieren – ohne – hin und wieder zu scheitern?

Noch dazu ist Ede sensibel und empathisch.

Beides schätze ich sehr an ihm; nie stellt er sich ins Rampenlicht, oder fordert Sachen ein; meist bleibt er konstruktiv, dem Leben zugewandt – meistens, nicht immer; manchmal ist genug einfach genug. Das sein Fass am Überlaufen war, hat er vielleicht nicht flott genug gemerkt, erst nach und nach, vermutlich mehr unterschwellig, so wie eingewachsene Fußnägel, oder Splitter in Fingern, die sich – hin und wieder – bemerkbar machen. Sensibilität als Begriff schon ist komplex.

Nie weiß ich, von welcher man spricht.

Bei Empathie ist‘s einfacher. Man erkennt schnell, wieviel jemand hat. Sprache ist ein gutes Indiz. Je achtsamer jemand spricht, desto respektvoller ist der Umgang mit anderen – und – desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen empathischen Menschen handelt. Deswegen habe ich eine metaphorisch-visuelle Empathie-Skala erfunden. Weit und offen ist sie, wie die Menschen und reicht von

Schmetterling bis Panzer.

Empathie, Takt und Sensibilität sind vermutlich die stärksten Eigenschaften, die Menschen charakterisieren. Spannend hierbei ist, wie die glorreichen drei heranwachsen und ab wann sie ihre Eigenständigkeit zurückgewinnen. Französisch zum Beispiel ist eine recht höfliche und diskrete Sprache, die dennoch

keine Auskunft über die drei Glorreichen gibt.

Oft vermischen Menschen Höflichkeit mit Empathie und Sensibilität. Dabei kann man höchstens Takt in die Nähe bringen. Nicht selbstausgewählte Sprachprinzipien und Methoden stellen keine persönlichen Werte, sondern gutfunktionierende Werkzeuge dar, was zumindest gewaltfreie Kommunikation unterstützt.

Ede hat alles und doch hat’s nichts genützt. Warum?

Es sich einfach machen und zu sagen, dass es eine Verkettung von Schicksalsschlägen ist, plus den üblichen Beziehungsproblemen, ist nicht meine Art. Außerdem würd‘s Ede nicht gerecht werden; daher drehe ich den Spieß um: Was treibt uns an? Was lässt uns leuchten, was lässt unsere Leidenschaft brennen?

Wie können wir Sonne bei all dem Schatten sehen?

Ich glaube Ede muss mal aus-checken, mal irgendwo alleine wohnen, weg vom gewohnten Umfeld, raus aus täglichen Ritualen, hin zu Neuerfindung, mit Natur, Stille, Frieden, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Gilt vermutlich auch für seen Fru. Ich habe gehört, das sich Menschen aus Angst vorm Alleinsein aneinanderklammern, obwohl sie sich nicht gut tun.

Wie erkennt man sowas, bei aller Achtsamkeit?

Fünf Tage steckt Ede im tiefsten Verlies der Unterwelt. Was kann ich tun für ihn? Meine Wohnung hab ich ihm angeboten. Vielleicht hilft‘s ihm den Kopf klarzubekommen. Sowieso sind zur Zeit viele nachdenklich und am Grübeln. Viele versuchen Eigentum loswerden und wollen in den Süden. Würde sowas Ede helfen? Vielleicht erst mal kleine Schritte.

Von 2,0 zu 0,2 Promille – könnte ‘n erster Schritt sein.

Hoffentlich bekommt er‘s ohne Hilfe hin. Nostradamus lag auch nicht immer richtig, warum sollte Ede es nicht schaffen – ich glaube an ihn. Und Ede ist nicht allein. Frankreich und Deutschland geht‘s ähnlich. Man ist mit der Gesamtsituation unzufrieden, sieht wenig Licht im Tunnel, will sich nicht verändern, will alles lassen wie es ist und bleibt doch – unzufrieden.

Wie können wir machen, dass alles anders wird…?