Archiv für den Monat: Januar 2023

29.Januar – Kieler Gespräche – Odyssee 2023

Mittwoch hatte ich meinen Auftritt, anlässlich 60.Geburtstag des Élysée-Vertrags; klug und charmant die Journalistin, offen und einladend ihre Fragen; fünf Minuten hatten wir; mir kam es zum Einen kürzer, zum Anderen länger vor.

Alles verlief reibungslos.

Sogar die Internetverbindungen hielten tapfer stand, was sagte man dazu. Zum Ende des Gesprächs fühlte ich mich gegen den Strich gebürstet; nicht wegen der Thematik, der Sache, gar ihrer Fragen, oder meiner Antworten, das war alles ganz wunderbar.

Einander offen und neugierig zu begegnen ist so – natürlich.

Sogar viel mehr als das, man will ja selbst so angegangen werden, daher ist es nicht nur natürlich, sondern – logisch. Warum scheint mir das auszusterben? Liegt es am Hassschüren der bekannten Autokraten? Mit ausreichend „Glück“ gewinnt Trump 2024.

Alle Weltmächte von Arschlöchern angeführt – wunderbar.

Wundervolle Aussichten. Wenn’s dann nicht eine RAF4.0 gibt, oder die US-Amerikaner nicht alte Traditionen aufwärmen, (für die Jüngeren, falls ihr googeln wollt, John F. Kennedy hieß er), oder alle freiheitsliebenden Super-Hacker dann nicht zusammen gegen museale Alpha-Malaria arbeiten,

dürfte es spannend – und heiß – werden, in doppelter Hinsicht.

Muss bis dahin Gas geben, na sowas, wieder ’ne Doppeldeutigkeit, wenn ich noch ein paar Sachen schreiben will. Ganz so entzaubert wie Monsieur Destouches bin ich noch nicht, aber ich muss mit erschrecken feststellen, dass ich ihn, sowie seine Brüder im Geiste Henry Miller, Charles Bukowski und William Burroughs,

immer besser verstehe.

Bis ich aber ganz in den Tartaros absteige, habe ich jedoch noch viel zu tun. Also Ärmel hochgekrempelt. Mich auf der Videoleinwand mit dieser eloquenten Kieler Journalistin zu sehen, war schon irgendwie merkwürdig; wobei, Moment mal: Ist die nicht Französin?

Sogar in Kiel, im hohen Norden sitzen sie also schon.

Spaß bei Seite, Europa mit dem offenen Miteinander ist schon geil; wem Trachten fehlen, wem das nicht konservativ genug ist, kann nach Bayern oder Texas gehen; für die Neugierigen und Weltoffenen empfehle ich, entschlossenes Eintreten für europäische Einigkeit, Brüderlichkeit und Freiheit.

Sonst regieren auch hier bald die Arschlöcher.

Marine Le Pen und Eric Zemmour warten nur auf Manu’s Ende. Bestimmt sind die zwei nett zu ihren Kindern, ihre rhetorischen, sowie übrigen Talente will ich gar nicht in Abrede stellen, aber wenn ich deren Sichtweisen, Interviews und Brandreden länger als eine Minute höre, werd ich

blitzartig den Fernseher kurz und kleinschlagen.

Deswegen, sowie aus 120.000 anderen Gründen, habe ich seit 15 Jahren kein TV mehr. Klaut einem nur Zeit. Dabei gibt‘s so viel zu tun. Selbst die Hobbits im Auenland erkannten letztlich, dass man was gegen das Böse tun muss. Wahrscheinlich hat Olaf deswegen seine Meinung geändert, und liefert jetzt Panzer an die Ukraine.

GUT finde ich das irgendwie auch nicht.

Aber vielleicht sorge ich mich umsonst, denn wenn das so verlässlich klappt wie die deutsche Bahn, werden die Dinger ohne Munition geliefert, weil keiner einen Anforderungsschein in vierfacher Ausfertigung beim Standortältesten abgegeben hat; möglich wäre das in Deutschland, bin mir da sicher.

Aber genug der Meckerei, gibt genug Schönes.

Natur, Blumen, Bücher, Musik, Kunst, leckeres Essen, großartige Weine und tolle Menschen, mit denen man – ALL DAS – teilen kann, langt das nicht? Mir schon. Ich hab auch ein ganz normales Fahrrad, ohne Batterie und E-Motor; Freunde nennen mich bereits heute schon „Aussterbende Rasse“.

Recht haben sie, wir sind alle dran, wozu die Aufregung…

22.Januar – 60 Jahre Élysée-Vertrag – Odyssee 2023

Heute hat er Geburtstag. Charles und Konrad sind zwar nicht mehr unter uns, aber den Vertrag gibt‘s noch; waren die Erwartungen zu Anfang in der Tat größer – wir alle kennen das aus Beziehungen und Partnerschaften, Arbeit und Küche, wie wir mit Leidenschaft beginnen und nach und nach alles verschlimm-bessern, bis wir vergessen, was wir ursprünglich wollten – so können wir uns heute an nahezu achtzig Jahre Frieden erfreuen.

80 Jahre stellt euch das mal vor.

Mir kommt das unglaublich lang, gleichzeitig aber auch unfassbar kurz vor. Was hat man sich gegenseitig die Schädel eingeschlagen – unfassbar. Bis heute verzieren abertausende Denkmäler beide Länder. Kein Dorf, durch das man spaziert, an dem nicht eines jener düsteren grauen Mahnmale mit frischen Kränzen ans Schlachthaus Europa erinnert.

Ich bekam die Einladung von einer Journalistin.

Man suchte Menschen und deren Lebensgeschichte, als Beispiele für französisch-deutsche Freundschaft und Partnerschaft. Mit Freude sagte ich zu. Eigentlich bin ich bekannt für Auflehnung und mein Dasein als „Dagegen-Schlumpf“; ja – sag ich nur zu Essen, Trinken, Freunden und Frauen, da geht’s mir wie Julio, nur mit bescheidenerem Erfolg.

Auch variiert meine Reihenfolge.

Inhalt des Interviews soll ein mehrminütiges Gespräch sein, meine Erfahrungen nach sieben Jahren La France und ob ich vielleicht Wünsche für die Zukunft hab. Klang einladend und klar strukturiert – und doch – hab ich mir, wieder typisch, ungefähr 120.000 verschiedene Gedanken gemacht. Was sag ich wie, ist nur‘n erster Spatenstich, der vielen Gedankengebäude.

Überhaupt – wie sind meine 7 Jahre?

Fast immer halte ich Zwiegespräche mit dem großen Onkel, womit ich weder Odin, noch die hellenischen Götter, sondern Sokrates meine. Weil die sokratischen Dialoge aber schon durch Platon und andere feste Größen in der

großen kosmischen Waschküche

mehr als ausreichend belegt sind, sind mein Gesprächspartner Heraklit und Aristoteles. Weil es aber auch über und von A. soviel so lesen gibt, und über H. nichts, zumindest nichts Belagbares / Nachgewiesenes, ist Heraklit mein regelmäßiger Gesprächs-Partner.

„Was willst du?“, mürrisch wie immer.

„Giasas…“

„Giasu, sind wir wieder beim Siezen?“, nie vergisst er, keine Ahnung wie er das macht; habe jetzt schon keine Lust mehr; IMMER ist es anstrengend; was soll man auf diese Frage antworten; so oder so mache ich mich lächerlich, oder sehe blöd aus.

„Wie denkst du über sechzig Jahre Élysée-Vertrag?“

„Das fragst du mich? Was soll ich darüber denken? Zu meiner Zeit gab es Kelten, Gallier, Germanen und Teutonen, alles irgendwie mit bewegten Grenzen, eine wild-durchmischte Zeit und natürlich dann irgendwann – Römer“, dachte mir schon, dass es ein längeres Gespräch wird.

„Du siehst zerknirscht aus; du musst deine Frage anders stellen, wenn du was anderes hören willst; worum geht es dir?“, so macht er es immer, einfach das Ganze umdrehen, na wunderbar, ihr seht es ja selbst.

„Gute Frage…“

„Danke, ich bemühe mich, immer, wie du weißt…“

„Oh ja, bei allen hellenischen Göttern, das weiß ich wohl…“

„Dann komm endlich zum Punkt…“, der ewige Grantler.

„Ich hab‘ da dies Interview, was so ähnlich wie ein….“

„Weiß ich, ein klassischer Dialog….“

„Genau, es geht um meine Erfahrung nach sieben Jahren in…“

„Ja, und? Erzähl doch einfach, deine Integration ist jedenfalls erfolgreich gelungen!“

„Warum sagst du das?“

„Früher wärest du längst zum Punkt gekommen, bist richtig französisch geworden…“

„Okay-okay; hab da echt ‘ne tolle Zeit; wenn man neugierig und offen für andere Sprachen und Kulturen ist, bereichert es ganz ungemein, was vermutlich nicht nur für mich in La France, sondern für alle Länder und deren Kulturen gilt…“

„Weise gesprochen…“

„Ganz besonders mag ich die fantastischen Gegensätzlichkeit beider Sprachen und Kulturen; selten werden wird man einer Meinung sein, oder zusammenfinden, muss man ja auch nicht, solange man sich gegenseitig respektiert, aber wir können unfassbar viel voneinander lernen; La France und Deutschland als streitsüchtiges,

erfolgreich sich aneinander reibendes Ehepaar – tolle Metapher.“

„Find‘ ich auch; wie erhält man also seine Ehe jung, vital, voller Sex, Respekt, Rock’n’Roll und Liebe für die Andersartigkeit des Partners?“

„Zumindest müssen beide ihr Ego regelmäßig ins Achtung stellen, am Besten wegschließen, sonst versucht man sich gegenseitig von sich und seiner Kultur zu überzeugen, so wie es ja meist im alchimistischen Labor des Alltags geschieht….“

„Jeder denkt, dass er besser als der andere….“

„Ganz genau, menschlicher Egoismus sag ich nur, gab‘s bei uns im antiken Hellas genauso; denk‘ nur mal an die Athener zu meiner Zeit, den vielen Krieg, Mord und Totschlag; 60 Jahre Frieden?

Unmöglich zu jener Zeit….“

„Wodurch ham‘ wir den Frieden gesichert? Durch Kapitalismus und Wachstum? Oder eher durch kulturellen Austausch und gemeinsam-verabredete Interessen? Oder gibt es mehr, was wir unbewusst unter den Teppich kehren?“,

aber echt jetzt.

„Mal mir mal dein Bild, deiner eigenen gewünschten Vorstellung von Zukunft für La France und Deutschland, wie würde das aussehen?“ Da hatten wir den Salat; so ging es immer; nie kam man zum Zug, nie gab er etwas von sich, immer lag der Ball im eigenen Feld,

so anstrengend.

„Vielleicht könnte man den gegenseitigen Austausch intensivieren; auch scheint man heute in La France weniger feudal zu sein; vielleicht begegnen sich Manu und Olaf wirklich mehr in Augenhöhe, zwar nicht tränenüberströmt vor Freude, aber in sachlicher Partnerschaft; in Schulsystemen, den beiden Systemen überhaupt gibt es viel, was man voneinander lernen kann.

Auch sprachlich….

Was ganz anderes, was mache ich jetzt mit meinem Blog? Greife ich an und baue eine richtige Homepage, voll professionell und modern, um mehr Reichweite und all diese merkwürdigen Dinge zu bekommen, oder lasse ich alles auf provinziellem Level?“

„Interessanter Themen-Wechsel…“

„Nicht wahr? Was sagst du…?“

„Willst du wirklich als Autor / Schriftsteller / Dichter wahrgenommen werden, um davon irgendwann, rein theoretisch leben zu können? Oder willst du das nur so als Hobby, quasi zum Spaß weitermachen? Das ist die einzige Frage, die es zu….“

„Also, dank dir habe ich die Antwort schon….“

„Na, denn mal los…“

15.Jänner – Apokalyptik 23 – Odyssee 2023

Mein Waschmittel war alle und wollt‘ mir die Beine vertreten. „Ewige Sitzerei, einfach Furchtbar…“, grummelte ich, wissentlich, dass niemand darauf antworten dürfte, außer den griechischen Göttern, die mir, aus reiner Bosheit und zur Erinnerung meiner Nichtigkeit, Regen vom Himmel oder Hundescheiße am Schuh bescherten.

Doch sie schienen zu schlafen.

Nichts dergleichen geschah. Ich schwang mein‘ Rucksack auf den Rücken und sprang ins Freie. Es schien geregnet zu haben. Ein feuchter grauer Himmel überzog Netzhaut und Horizont. „Auf geht’s“, motivierte ich mich, bei diesen Grautönen, wär ich am liebsten umgekehrt.

„Disziplin!“, schrie mein mein Selbst an.

Wenn ich mich nicht hin und wieder ins Achtung stelle, bückse ich aus wo ich kann. Nicht mehr so penetrant wie früher, aber immerhin. Glücklicherweise hatte ich Lilien gekauft. Sie zeigen im Zeitraffer, wie Leben funktioniert. Längst konnt‘ ich beobachten, wie ich Seife aus Massalia sparsamer anwende, als wär’s Lebenszeit.

Hatte ich etwa Angst?

Dem sparsamen Verbrauch der Plastikflasche nach zu urteilen, ja. Oder drohte das Leben mir letztendlich, wie allen anderen Wirbeltieren auch, irgendwann ein wenig Weisheit in Geist und Körper zu pflanzen? Wie immer hatte ich keine Ahnung, davon aber, ebenfalls wie immer, reichlich.

Rucksack und ich schlichen die Rue Bouquières hoch.

Meine Eingeweide sagten schon mir länger, dass 2023 das Jahr der Offenbahrung ist. Da keine runden Geburtstage anstehen und ich sonst nichts Wichtiges zu tun habe, außer leben eben, gefiel mir der Gedanke. Es fing schon mit mei’m Blog an. 10 Jahre gibt’s ihn.

Dabei sieht er wie dreiundzwanzig aus.

Da passt ’ne neue moderne Homepage doch prächtig mit 60 Jahr-Jubiläum des Èlysée-Vertrags, sowie dem 80igsten Geburtstag von Julio Iglesias zusammen. Welch Vorstellung, endlich in Augenhöhe mit den Großen der Welt, wahre Bedeutung, Ruhm, kreischende Fan’s, meistens Frauen.

Einst rang ich mich selber nieder,

und zog mich selbst aus dem Schlamassel; Ware Wahrheit, verhältst dich doch am Ende umgekehrt proportional zur verzweifelten menschlichen Suche nach Erkenntnis und Naturfindung durch Religion und Götzenanbetung; oder in Bert’s Worten, „Erst das Fressen, dann die Moral“, oder in südlicher Eleganz, von Freund Julio, „Je n’ai pas changé“.

Sollen die Weisen mir den Puckel runterrutschen.

Hauptsache es wird geschrien und gesoffen. Wein, Weib und Gesang; alles bleibt nämlich überhaupt nicht wie es ist; hast Recht, mein lieber Heraklit; beim Carrefour Express gab’s neue Flaschenseife, sowie andere Kleinigkeiten. Muskatnuss fand ich wieder nicht. Louis de Funes hat sie erfolgreich aus den Regalen geschrien.

Warum es neun Monate

brauchte, bis ich ’ne Agentur fand, die mir‘ ne neue Internetseite baut, bleibt mir genauso verborgen, wie der physisch-chemisch-kosmische Prozess einer Sternengeburt und seiner etwas später folgenden Abdankung, der Supernova.

Wo ich gerade bei Super bin.

Eine Frage an Super-Olaf – allen besser bekannt als „G20-Hamburg-jetzt-greifen-wir-aber-mal-richtig-durch-Scholz““ – kennst du den Inhalt des „Èlysée-Vertrags“? Ich meine, als gelernter Anwalt? Falls ja, schau ruhig mal wieder rein, es lohnt sich. Vielleicht stellt ihr im Kanzleramt eine brasilianische Transe als deine persönliche Assistentin ein,

damit du lockerer und menschlicher wirst,

wär das nichts? Denk mal drüber nach. Die Quelle allen Übels finden wir im Spiegel. „Erkenne dich selbst“, so steht’s schon seit über 2500 Jahren im Tempel von Delphi. Hilft wahrscheinlich auch heute, in Zeiten, wo alle gleich gut und gleich schlecht sind.

Ich sag nur, „Muskatnuss, Herr Müller…“

Santé…

08.Januar – Taxi nach Toulouse – Odyssee 2023

Mein bestelltes Taxi kam pünktlich. „Endlich, zurück nach Toulouse…“, dachte ich, während sich meine Freunde herzlich von mir verabschiedeten. Ich fühlte mich schäbig und hinterhältig. Nicht nur wegen meiner Gefühle und Gedanken. Woher kamen sie? Was war es, was ich fühlte und erlebte, eine Art Heimweh? Oder schlichte Müdigkeit, Erschöpfung, verursacht durch Kulturschock und Überarbeitung?

Ich wusste es nicht.

Mein Fahrer kam aus dem Iran. Wir verstanden uns sofort, nicht nur wegen unserem Interesse an alten Sprachen. Zwei Semester Medizin studierte er, bevor er vor fünf Jahren fliehen musste. Todesstrafe, lautete das Urteil, weil er sich vorm Richter als ehemaliger Moslem zum Atheismus bekannte.

Zum Glück war er zur Urteilsverkündung nicht anwesend.

Sie hätten ihn sonst dabehalten, erzählte er, so wie seinen Cousin, der auf den Henker wartet. Seitdem schlägt er sich tagsüber als Taxifahrer und abends als Trader durch. Richtig happy sei er in Deutschland. Keine Angst mehr vor willkürlicher Verhaftung haben zu müssen. Freiheit fühle sich immer noch merkwürdig an. Ob ich mir das vorstellen könne

Natürlich nicht.

Was ich tun würde, wenn ich im Iran leben müsste. „Ich würde Kinder und Jugendliche unterrichten, damit sie einen besseren Start im Leben haben…“, antwortete ich. Ihm gefiel meine Antwort, sie sei nicht gewalttätig. Er würde jederzeit zur Waffe greifen, wenn er nicht hätte fliehen müssen. Freiheit ist es wert dafür zu sterben, sagt er.

Ich hatte einen Kloß im Hals.

Gerade bogen wir auf die Autobahn-Auffahrt Quickborn. Es war kein leicht dahergeredetes Versprechen. Keine taktische Aussage eines strategisch-denkenden Politikers. Es kam aus tiefstem Herzen. Ich schämte mich. Wie leichtfertig ich Freiheit hinnahm. Wie natürlich ich glaubte auf vorhandenen Komfort zugreifen zu können.

Und zig weitere Unverfrorenheiten.

Seit sieben Jahren lebe ich in Toulouse. Manchmal kommt‘s mir vor, als wären’s zehn oder fünfzehn, manchmal als wären es zwei Jahre. Viel ist seitdem passiert. Unruhe und Hektik sitzen uns Deutschen in den Knochen. Nur mühsam kriegen wir sie raus. Heute ist mein Leben unaufgeregt, voller Zeit und Müßiggang.

Es war ein weiter Weg.

Gelungene Integration, könnte man sagen. Auf meinen iranischen Fahrer trifft das jedenfalls zu. Nach fünf Jahren so exzellent Deutsch zu sprechen ist aller Hochachtung wert. Glücklich und zufrieden ist er auch noch, wie ich in Toulouse.

Zwei Mal gelungene Integration.

Am Flughafen verabschieden wir uns herzlich. Wir hoffen uns wiederzusehen. Wenn sein Iran die Revolution erfolgreich abschließt, wolle er mich einladen. Eine schöne Vorstellung. Viereinhalb Stunden später:

„Cabin Crew – 20minutes!“

Ein wenig plump lässt der Pilot die Maschine auf den Asphalt knallen. Salut Toulouse. Wie die Lemminge wandeln wir durch den Flughafen, jeder zu seinem nächsten Gefährt, sei es Straßenbahn, Auto, Fahrrad, oder wie bei mir – Motorrad.

Mein Rappen schläft tief und fest.

Erschrocken bellt er auf, als ich den Motor starte. „Na, gibt’s was Neues?“, frag‘ ich ihn. Wie immer keine Antwort. Mundfauler Fischkopp. 2019 in Kaltenkirchen gekauft. Was will man von Kaltblütern erwarten, außer zuverlässig Karren ziehen.

Ich lass die Zügel locker.

Schon brausen wir über die Rocade, vorbei am Rugby Stadion, am Canal de Brienne, im Schneckengang zur Garonne, endlich, da ist sie, andächtig lass ich meinen dunklen Hengst an ihr vorbeigrummeln. Schön wieder hier zu sein. Im Schritttempo lass ich mein‘ Kaltblüter durch die engen Gassen traben.

Ich schau auf’s Cockpit – 22:00 Uhr.

Mit stillem Donnern schleichen wir durch die Rue Peyras, Erinnerungen an Cedric und seine Bistronauten, vorbei am Eastside Klamottenladen, wo Christophe seine Dirt-Track-Mopeds ausstellt, scharf rechts abgebogen in die Rue des Tourneurs, über den Place Esquirol, dann über Place Rouaix,

ins Herz von Les Carmes,

kurz vorm Marché scharf links, rein in die Rue du Canard – Place Mage, endlich zuhause. Im Briefkasten warten vier Wochen „Zeit“ auf mich. Nach einer Weile wird meine Bude warm. Ich mache mir ‘nen Tee, blättere ein paar Seiten. Plötzlich bleiben meine Augen hängen. „Wieviel Zeit bleibt mir noch?“, heißt der Artikel, aus der Rubrik „Entdecken“

Jean-Remy von Matt hat ‘ne Lebenszeituhr entwickelt.

„Spannend!“, denke ich. Ronja von Rönne und Amonte Schröder-Jürss schrieben den Artikel. Bei Jay-Ahr gehen Promis ein und aus. Ob Klitschko oder Altkanzler Schröder. Viele seiner Freunde wollen so‘ne Uhr, sagt er. Vermutlich hat er einen exaltierten Lebensstil. Sein Loft schein großzügig zu sein. Eine Zitrone steht drin

Ich nippe am heißen Tee,

sehe aus dem Fenster, welch schöner dunkler Schoß, liebes Toulouse, ich denke an den zum Tode verurteilten Iraner, an den Erfolg von JR, Ronja und Amonte, an meine Freunde, an mich, der sein kleines Romancier-Leben vor sich hintröpfeln lässt, ich denke an Frankreich und seine Meritokratie, an Leistung, Effizienz, Sieg, Erfolg,

ich denke an Alles – und Nichts.

Merkwürdig. Ich meine ein Muster, eine Verbindung zu erkennen und im gleichen Augenblick auch nicht. Alles ist verbunden und zugleich – nichts. Man stirbt im Iran und residiert in Berlin, alles gleichzeitig. Nichts folgt einer Logik, alles geht seinen eigenen Weg, hat seine ganz eigene Natur, ’nen einmaligen Charakter.

Alte haben Angst vor Veränderung,

die Jungen Furcht vor Tradition, Stillstand und verbauter Zukunft. Manche sterben für Freiheit, andere arbeiten für Werbung und bauen Lebenszeituhren. Wachstum und Erfolg scheint alle einzuladen und anzustecken.

Erfolg gibt Recht.

Vielleicht bekommen Stefan Evers und Friedrich Merz deswegen noch, und wie ich finde, überraschenderweise Zustimmung und Resonanz in der Bevölkerung. Erstaunlich, dass die CDU immer noch, oder jetzt wieder, so breitbeinig daherkommt.

Keine Ahnung warum,

aber Politiker, die Unternehmensberater waren, gar wirtschaftlich äußerst erfolgreich sind, interessieren mich nicht sonderlich. Brandstifter und Populisten, von Autokraten brauchen wir gar nicht reden, sind vermutlich eher am eigenen Nutzen, eigenen Bonus und am Erfolg interessiert.

Warum zieht – genau das – an?

Keine Ahnung. Wir scheinen lieber in der Außenwelt zu leben. Unser Drinnen ist unpopulär Was tut man mit Freiheit, Einigkeit und Brüderlichkeit, wenn man sie täglich genießt? Konzentriert man sich DANN auf eigenen Erfolg? Oder gründet man eine Familie? Oder lieber ein Leben lang lernen, um als weiser Mensch dahinzuscheiden?

Ellenbogenmänner sind zum Kotzen.

Und doch werden wir nicht müde, sie toll zu finden, obwohl sie seit tausenden von Jahren den Planeten mit Mord und Totschlag überziehen. Im Gegenteil, wir stellen Denkmäler dieser Helden in unsere Städte. Ja schlimmer noch, wir fallen immer wieder auf den gleichen Scheiß rein.

Wie ist das nur möglich?

Xerxes, Leonidas, Alexander der Große, Cäsar, Rom, Konstantin, Byzanz, Karl der Große, Ludwig Katorze, Napoléon, Bismarck, Stalin, Hitler, Mussolini, Churchill, eine endlose Polonäse aus Völkermord und Brandschatzung, Angriff und Verteidigung.

Mein iranischer Taxifahrer

hat seinem Leben eine neue Richtung gegeben. Doch was tun, wenn man täglich wohl behütet, mit allem Komfort, wie selbstverständlich lebt, ihn sogar als rechtmäßig beansprucht? Womit verbringen wir unsere verbleibende Lebenszeit? Ich fürchte, wir, die wir alle von den reifen Früchten funktionierender gelebter Demokratie kosten, wir,

haben den Schuss nicht gehört…

Oder umgekehrt, wir haben ihn gehört, doch was tun, sprach Zeus? Schon Aristotelis empfiehlt das Leben zu genießen, obwohl man zu seiner Zeit ebenfalls turbulent in Athen lebte. Ich nippe am kaltgewordenen Tee und seh in die Dunkelheit der Nacht.

Toulouse hat keine Antwort für mich…