Archiv für den Monat: Juni 2019

Meine Augen

Im Schlamm liege ich. Seit langer Zeit schon wälze ich mich mit meinen Flügeln im Schmutz und werde ihn nicht los – ständig schüttet unsere Zivilisation neuen Unrat drauf. Immer wenn ich gerade denke, jetzt sind die Flügel frei, kommt eine neue Ladung. Und weil ängstliche Gesellschaften und Menschen auf Nummer sicher gehen, haben sie sich eine totsichere Lösung einfallen lassen, damit ich nicht hoch und weit fliege – seit meiner Geburt trage ich eine Leine am Fuß – zwar ist sie lang genug, um mich zu erheben, aber ausreichend kurz, um mich jederzeit runterzuziehen, wann immer es nötig ist.

Sie halten mich am Boden wie all die anderen Landtiere – wie ein Ziervogel im Käfig, oder ein Dodo – mit dem Unterschied, dass ich furs Fliegen gemacht bin. Sieht man mir aber direkt in die Augen, kann man erkennen, dass ich schon mal von wahrer Freiheit gekostet habe. Eine phantastische Speise – einfach unbeschreiblich. Ein paar Mal konnte ich mich nämlich von den Fesseln lösen, bin dann ganz hoch hinaus; bin geflogen wohin ich wollte, tagelang. Irgendwann bekam ich Hunger. Ich machte den Riesenfehler zurückzufliegen.

Hätte ich doch bloß meinen Magen knurren lassen. Verdammt, wäre ich doch bloß jagen gegangen – es zumindest versucht. Bestimmt hätte es geklappt. Schön Beute machen, den Magen mit frischem Fleisch vollschlagen. Welch fataler Fehler zurückzufliegen. Sie machten ein Heidentheater, als ich plötzlich wieder da wa und bekam natürlich eine neue, noch festere Leine angelegt.

Freiheit – weiß man von ihr, hast du von ihr einmal probiert, ist es um dich geschehen. Ein Zurück? Ausgeschlossen. Du bist gebrandmarkt, bist beschädigte Ware. Von dem Tag an, dreht sich alles nur noch darum, sie wiederzubekommen – jeden Tag – das ganze Leben.

Schmutz und Schlamm abschütteln, die Schlinge abstreifen, sich endlich erheben – hoch über den Wolken zu schweben – Thermiken ausnutzen, sich mit ihnen hochschrauben, höher und höher – den weiten Blick genießen, den Göttern hallo sagen – fliegen, um zu sein – die Erde von oben sehen, wie sie wie ein gewaltiger Organismus danieder, in den Wehen liegt – wie sich Pflanzen und Lebewesen durch sie bohren, hindurchschrauben, sich in die Quere kommen, einander bekriegen und bekämpfen, um zu siegen und stärker zu sein als die anderen – zu dominieren, den Ton angeben, sich in alles einmischen, alles entscheiden müssen. Unersätzlich sein und bleiben, immer Mangel spüren, in der Hoffnung unsterblich zu werden.

Gegen Nachmittag landete ich in Heraklion. Kaum trat ich aus dem Flugzeug und schritt die Treppe hinab, bemerkte ich das besondere Licht. Es ist weich und warm, von einer ganz anderen Farbzusammensetzung – nicht so hart wie auf dem Festland. Es ist intensiv, aber blendet nie. Auch das Blau des Himmels ist von einer Farbe, wie ich sie noch nie gesehen habe.

Gut gelaunte Busfahrer kurvten uns in museumsreifen Kutschen zum Terminal, an dem man die buntgefleckte Urlaubsware sorgfältig auskippte. Ein Terminal wie aus Kuba. Geborstene Stahlbewährung steckt hier und da ein Bein aus dem Beton, als wäre es langweilig in der Wand, als hätte sich alles und jeder von Glück und Lebensfreude anstecken lassen.

Vermutlich hat man das Gebäude vor langer Zeit gebaut und seit dem, nichts mehr daran getan. Beim Betreten des Terminals komme ich drauf: Sieht aus wie eine alte Schule. Die Treppen, das Laufband, im großen Saal, der nach Turnhalle aussieht und auch so riecht. Erleichtert gehe ich an der Touristenschar vorbei. Mir langt mein kleiner Rucksack.

Als ich raustrete, bin ich überwältigt – eindrucksvolle Gesichter, mit kantigen grimmigen Gesichtszügen, und gütigen Augen. Dunkle Haut, die an Krokant erinnert – Sprachmelodien, die mit ihren beeindruckenden Worten markigen Eindruck hinterlassen – was für eine mächtige Sprache. Voll Leidenschaft, Energie und Lebenslust. Und dann noch der Duft der Luft dazu.

Tief beseelt setze ich mich in eine sonnige Ecke und schaue dem regen Treiben zu, wie alles durcheinander-wuselt, wieder und wieder zusammenkommt und erneut auseinander stiebt, wie ein Schwarm aufgedrehter Spatzen – unterstrichen, von einer unvergleichlichen Melodie, eingetunkt in weich-gezeichneten Farben, als würden die Götter höchstpersönlich den Pinsel führen – bis ich über diesen wunderschönen Moment langsam, tief und fest – einschlafe.

 

Neu-Gier

Ich bin müde. Und das recht anständig. Es hat nichts mit Schlafmangel zu tun, überhaupt nicht. Es ist mein Selbst, mit dem ich müde bin. Ich mag mich schon noch, so ist es nicht. Aber manchmal, so wie jetzt gerade, schafft es mein Charakter, mich richtig müde zu machen.

Seit ich klein bin, ist das schon so.

Ich öffne die Augen und strahle die Welt an. Alles will ich gleichzeitig wissen und machen, wirklich Alles. Ständig ist meine Neugier so groß, dass ich mich in jedes kleine Ding versenken und es bis zur mikroskopisch kleinen Molekularstruktur beschreiben und aufspalten kann.

Sozusagen Aschbombe vom Zehner – in Zeitlupe.

Als Ergebnis kommt ein Mensch heraus, der ständig zwischen Erschöpfung und Euphorie hin und herpendelt. Nein, nein liebe Psychologen – ich bin weder manisch-depressiv, noch irgendeine Form von „Grenzgänger“, der den schmalen Grat, oder irgendein anderes vermeintlich existierendes Thema als Ziel hat – eher das Gegenteil.

Ich lebe so gerne, so viel und intensiv, dass ich immer alles aufsauge und mein allerbestes gebe, nämlich wirklich Alles was ich hab. Interessanterweise hat das bis heute kaum jemand kapiert.

Wie oft habe ich in der Schule gehört, „streng dich mehr an“ – oder im Sport sowas wie „leg noch ne Schippe drauf!“, oder in Beziehungen, mein großer und absoluter Lieblings-Klassiker, „Wie kannst du das schon wieder vergessen haben? So hörst du mir zu!“. Beliebig und unendlich weitergehen, könnte die Liste.

Wenn ich nen Höhenflug habe, ist das offensichtlich für andere auch schön.

Menschen lassen sich mitreißen und erfreuen sich mit an den schönen Dingen des Lebens, aber nur solange, wie ich fliege. Kommt die Zeit der Erschöpfung, der Erholung, der Verpuppung und Transformation, nehmen sie Reißaus und rennen soweit sie können, als würde ich mich in ein schwarzes Loch verwandeln und alles und jeden mithineinziehen.

Dabei finde ich das ziemlich normal, dass man irgendwann müde ist – dies Recht, räumt die Welt mir offensichtlich nicht ein. Wenn ich nämlich daniederliege, ist es meist sehr still um mich herum. Ich finde das komisch. Ist denn nicht jeder so, mehr oder weniger? Sind wir nicht alle von manchen Dingen begeistert und irgendwann, vom Leben und all dem Bunten darin, müde und benötigen ein wenig Schlaf?

Schon immer hatte ich viel vor. Ständig war ich unterwegs. Alles Mögliche habe ich gemacht, wirklich alles. Auch gereist bin ich schon immer viel und gerne. Natürlich konnte und kann ich nicht alles machen, was ich gerne wollen würde, natürlich nicht – man weiß halt irgendwann, dass ALLES halt ein klein wenig zu VIEL ist – also wählt man, mehr oder weniger bewusst aus. Macht doch jeder so – hoffe ich.

Manches hat es aber ungleich schwer – zum Beispiel Skifahren. Ich liebe es. Am liebsten würde ich’s jeden Winter machen. Dabei bin ich es erst einmal gefahren – vor 30 Jahren, wohlgemerkt. Seit dieser langen Zeit versuche es im Stillen jedes Jahr aufs Neue und dennoch hat es bis zum heutigen Tag nicht geklappt. Ich bin mir deswegen aber nicht böse.

Spannend wird es dann In Partnerschaften, wenn die priorisierten Themen nicht die Gleichen sind. Dann kommt’s vor, dass man einander Vorwürfe und Vorhaltungen macht, dass man sich gegenseitige Unwichtigkeit oder eine stümperhaft-verdeckte Gedanken.- und Interessenlosigkeit unterstellt.

Dabei ist es genau anders herum. In Wahrheit geht es um ganz andere Dinge.

Ich glaube, viele fühlen sich abgelehnt, wenn der Partner etwas anderes will, etwas mit einer anderen Priorität versieht.

Zum Beispiel Sauberkeit. Alle meine Partnerinnen, waren ordentlicher als ich – ich spreche von Ordnung, nicht Sauberkeit. Das ist was ganz anderes. Dies Thema spare ich ganz bewusst aus. Zu viele Massaker habe ich auf Party‘s erlebt, nachdem irgendjemand dies Thema, in angeheiterter Runde aus der Büchse der Pandora gelassen hat.

Ordnung muss sein, hier in doppeldeutiger Sache sozusagen.

Ordnung ist für mich etwas, dass mit „Sich-Wohlfühlen“ zu tun hat und, ganz ehrlich gesagt, ich bin hier anpassungsfähig. In der Regel ist mein Bedürfnis nach Ordnung nicht übertrieben. Als Metapher können wir eine Wohnung, ein Haus oder ein Urlaubs-Cottage nehmen. Während ich ein mittelmäßiges Niveau an Ordnung brauche – alte Schulnoten von ein bis sechs – langt mir eine 3 bis vier, während für viele eine zwei Bedingung ist, um sich wohl zu fühlen.

Für mich ist das gar kein Problem, mich in einer Zweier-Umgebung wohl zu fühlen, wenngleich sie sich deutlich von einer „Drei bis Vierer“ unterscheidet – glaubt ja nicht, dass mich irgendjemand mal gefragt hat, ob ich mich in der satten „Zwei“ wohl fühle! Man setzt das halt irgendwie voraus, dass einem das Höherwertige, oder korrekterweise neutral gesagt, „höher-benotete“ automatisch mehr zusagt.

Das dass bei mir nicht der Fall ist, hat noch nie jemanden interessiert.

Oder um es auf den Punkt zu bringen – je stärker die Ordnung, desto eingeengter fühle ich mich. Aushalten und ausbalancieren tue ich das mit meinem Gedächtnispalast und mit schreiben. Deswegen bin ich wirklich und absolut überall überlebens.- und des Glückes fähig.

Das sorgt, wie kann es anders sein, natürlich für reichlich Reibung und dass schon seit Jahrzehnten. Diese Unbedarftheit, dieser grenzenlose Optimismus, der öfters auch an zum himmel-schreiende Naivität erinnert, lässt viele Menschen in meinem Umfeld mit den Augen rollen.

„Du kannst doch nicht so einfach in Tag hineinleben?“, Eltern und andere Autoritär-liebende neigen dazu, mich zu schnellstmöglicher Unterlassung zu drängen.

„Wieso denn nicht? Wie denn sonst? – meine übliche Antwort.

„Du musst doch Ziele haben; deine Zeit ist begrenzt; nutze sie; warte nicht; schnapp dir das Leben; bringe Ordnung in dein Leben; strebe das Höchstmögliche an; suche dir eine Frau die dich liebt und versteht; zeuge eine Heerschar Kinder!“ – eine der meistgespielten Langspielplatten.

Ich finde ja, dass ich meine Zeit nutze. Hab ich schon immer gemacht.

Vor Kurzem habe ich mir einen langersehnten Traum erfüllt. Ich habe Griechenland besucht. Genauer gesagt, Kreta. Mein Leben lang wollte ich das schon. Ich habe so viel über griechische Mythologie gelesen, so viele Bücher über ihre Kultur und ihre großen Philosophen, dass ich in Wahrheit im Herzen schon immer Grieche war und das nicht nur, weil ich seit über dreißig Jahren Rezina und Raki liebe. Vor zwei Wochen konnte ich mir diesen Traum erfüllen.

Was ich da alles erlebt habe und was das mit Ordnung zu tun hat, erkläre ich nächste Woche.