Archiv für den Monat: September 2022

25.September – Mit freundlichen Grüßen – Odyssee 2022

In Deutschland bekam ich Post von Libri und der Zulassungsbehörde. In ersterem Brief mahnte man‘ ne Rechnung an, die ich nie erhalten hatte und die per Post kam, obwohl ich bereits mehrmals darum bat, per e-mail angeschrieben zu werden. Beim Öffnen suchte ich noch dazu – WÖFÜR – ich zahlen sollte.

Vergeblich.

Beim zweiten Schreiben war‘s offensichtlicher, wenngleich nicht weniger schwer verdaulich. Man teilte mir mit, mein Motorrad zwangsweise stillzulegen. Grund war die Aufkündigung meiner Versicherung. Auch die Provinzial Brandkasse hält daran fest, mir alles per Briefpost zu schicken, obwohl ich seit Jahren dazu einlade, Geld, Bäume und unser aller Nerven zu schonen und grundsätzlich ALLES, per e-mail zu schicken.

Vergeblich.

Bis zur Halskrause gefüllt mit innerer Leere, saß ich in meiner Bude in Toulouse und sah aus’m Fenster. Im Innenhof wurde lautstark Fußball gespielt und hörte französischen Rap; hin und wieder traf man Fenster; meines glücklicherweise nicht; der hebephrene Nachbar über mir schrie und lachte ohne Punkt und Komma; keine Ahnung, ob er mit jemandem am Telefon um die Wette brüllte,

oder alleine war.

Meine Hausratsversicherung bestätigte, dass man die Kosten für die geplatzte Duschkabinenscheibe – tolles Wort, oder? – nicht übernimmt, weil‘s nicht Teil der Police ist; von meiner französischen Bank bekam ich‘ne e-mail, wo sie informieren, dass in meinem On-line-Bankaccount eine Mitteilung auf mich wartet; mehrmals durchdachte ich mögliche Gründe, warum sie sie nicht direkt per E-mail schickten.

Vergeblich.

Hebephrenie und Jähzorn haben viel gemeinsam dachte ich plötzlich. Mein Nachbar über mir in Ottensen hatte die Angewohnheit nahezu jeden Abend auszuflippen und in seinen Anfällen das ganze Haus zusammen zu schreien. Anders als bei meinem spielsüchtigen Schreihals in Toulouse, lebte er mit seiner Frau zusammen.

Hin und wieder gingen Flaschen dabei kaputt.

Nicht selten hörte ich die Gattin keifen und fluchen; Türen wurden zugeschlagen; wenn’s ganz doll kam, gab’s ein Handgemenge, an dessen Ende, so bildete ich mir aus Selbstschutz und Furcht vor der Wahrheit ein, immer eine schwere Bodenvase umfiel; mein gedankliches Konstrukt, um mir auszureden, dass er ihren Kopf tatsächlich

auf die Holzdielen knallte.

Soweit gehen und glauben, dass ich die Reinkarnation von Sisyphos bin, tue ich nicht; ganz bestimmt gibt’s Millionen, wenn nicht Milliarden, die noch öfter Köpfe schütteln, von Menschen in Slums, Odachlosen, sowie Kriegsflüchtlingen usw. wollen wir gar nicht erst reden; an Tagen wie diesen spüre ich, dass ich nervenwund, alt, müde und

merkwürdig geworden bin.

In solchen Momenten, versuche ich voll Verzweiflung klaren Kopf zu bewahren; dann reite ich die rationale Schiene; da wird analysiert und nachgedacht, dass sich Balken biegen; „heut mach ich doch viel weniger als vor zwanzig Jahren“, so geht’s regelmäßig los, „trotzdem bekomm‘ ich mehr Post!“ Kopfschüttelnd stehe ich auf und gehe wütend in meiner Wohnung herum; „Und im selben Atemzug sagt sie trotzdem weniger aus,

wie kann das sein?“

Noch dazu kommt das „mehr“ an Post gar nicht an; in Deutschland wie in Frankreich übrigens; unvergessen, meine Steuerstrafzahlung in La France, weil ich eine Frist hab verstreichen lassen, von der ich nichts wusste, wo man mir ebenfalls mitteilte, auf diverse Mahnungen nicht reagiert zu haben, die ebenfalls –

nie bei mir ankamen.

Frankreich wollte 4.800€ Versäumnis-Zuschlag haben, gewissermaßen mein Gipfel aller jemals gezahlten Strafen; herunterhandeln auf 1200€ gelang damals nur, weil ich eine leidenschaftlich-epische Ode ans Finanzministerium schrieb und an die sprichwörtliche Europa-Liebe und Hingabe zur Ausländer-Integration der Grande Nation appelierte.

Danke lieber K. für dein geschliffenes Französisch!

All diese „Events“ haben was gemeinsam; sie machen michhandlungsunfähig, wie Schildkröten und Käfer auf dem Rücken; kann, oder sollte man um mehr Rücksicht bitten? Was denkt der Zuhörer? „Der soll sich mal nicht so anstellen!“, während er höflich nickt und zuhört, bis er, mit viel Glück, Verständnis einräumt, in Zukunft leiser / unkomplizierter zu sein?

Libri gibt nicht mal ’ne E-Mail Adresse an.

Als ich den Herrschaften schrieb und um Klarheit bat – WOFÜR – ich denn zahlen sollte, schickte man mir ein zweites Schriftstück, auf dem die gleiche Summer – OHNE – Mahngebühr stand, aber immer noch ohne Erklärung für – WAS.

Was kann man da machen?

So kam ich zur Überzeugung, noch genauer nachzusehen, was ich für Verbindlichkeiten habe. Und weil ich kein Auto, stattdessen nur noch Motorrad fahre, fragte ich per E-Mail den ADAC, ob Rechtsschutzversicherungen von Deutschlands größtem Automobil-Club auch für Motorräder gelten.

Mittlerweile ist das acht Wochen her.

Seit Kurzem muss ich bei meiner Deutschen Kreditkarte nicht nur Geheimnummern und PIN’s eingeben, wenn ich was on-line kaufe, sondern ein weiteres „Geheimwort“, dass man mich kürzlich zwang zu vergeben. Vermutlich habe ich seit Monaten eine ähnliche Mitteilung meiner französischen Bank, weswegen ich keine Kreditkartenzahlung mehr durchführen kann.

Wäre ’ne Erklärung.

Keine Ahnung ob es nur mir so geht. Vielleicht ist‘s für jüngere normal, weil sie‘s nicht anders gewohnt sind; vielleicht kommen die Schwierigkeiten immer dann, wenn man Gewohntes ablegen muss und gezwungen wird, sich mit neuen Abläufen zu arrangieren, die man deswegen, aus guten Gründen wie ich finde,

kritisch beäugt.

Wegen all dem Kram mehr Wein einzuschenken ist doof. Deswegen Alkoholiker zu werden, wäre wirklich traurig und irgendwie – erbärmlich. Darüber zu schreiben hilft schon. Nicht auszudenken, wenn ich nicht mal das tät. Vielleicht muss ich wirklich alles außer der Wohnung kündigen,

um keine Post zu bekommen!I

In meinem erweiterten Freundes.- und Bekanntenkreis macht man gerade das Gegenteil. Während alle Welt sich vorm Winter fürchtet und über Gas, Öl, Benzin und Strompreise flucht, weil die sich teilweise vervielfacht haben,

kaufen nicht wenige Freunde

superschnelle Autos und Motorräder. „Was sagt man dazu!“, dachte ich. Wie bei Banken, Ämtern und Versicherungen stellte ich viele neugierige Fragen, an dessen Ende immer die gleiche Antwort kam:

„Man lebt nur einmal!“

Es scheint so, als wenn ICH das Problem HABE, weil ICH das Problem BIN, weil ICH anscheinend einen anderen Lebensstil führe, weil ich anscheinend andere Werte BESITZE. Vermutlich greifen soviele Institutionen deswegen noch mehr in unsere individuellen Freiheiten ein, weil man so mehr Umsätze erzielt und somit

mehr Geld verdient.

Ändern tut das an meiner Erkenntnis nichts. In Frankreich lebt’s sich nicht besser als in Deutschland, nur anders. Weniger Administration hat man nirgends. Überall ist es komplizierter geworden – zumindest für mich. Wie wollen wir uns in Zukunft erfolgreich reduzieren, gar – neu erfinden – wenn wir den gleichen Konsum schüren und befriedigen, wie all die Jahre?

Auch das – kapiere ich nicht.

Es scheint so, als wenn mit zunehmender Lebenserfahrung die Fragen mehr, statt weniger werden; noch dazu schrumpft das Verständnis gegenüber Andersdenkenden; neulich auf‘m Flughafen näherte sich eine alte Dame einer besetzten Bank. Alle die drauf saßen waren Mitte Siebzig, außer einer, die eher mein Alter schien; sie hatte keine Probleme die alte stehende Lady zu fragen, ob es okay wäre,

wenn sie sitzen bliebe…!

Die Sitzende war geschmackvoll gekleidet und trug Rolex; die alte Dame Mitte siebzig, deutlich schlichter in Sachen Dresscode und Schmuck: doch sie lächelte, „Gerne – machen sie sich keine Umstände wegen mir….“

Altwerden scheint brutal zu sein…

18.September – Faust und der Blues – Odyssee 2022

Wolfgang ist Wissenschaftler und Single. Tagsüber erforscht er das Weltall, abends das Alleinsein. Immer war das nicht so, in den zwanzig Jahren unserer Freundschaft. Doch nachdem seine Frau einen erfolgreichen Selbstmordversuch in der Hochzeitnacht beging, sagte er sich von Frauen los. Ich verstand ihn. Über die Ursache wurde viel spekuliert; war psychische Labilität im Spiel, oder andere seelische Erkrankungen, die man ihr nicht ansah?

Doch zuviel war zu viel!

Man kann alles wissen wollen und darf sich gleichzeitig davor fürchten; all unsere permanenten inneren Widersprüche und Konflikte dürfen wir ausleben, müssen wir sogar, gehört es doch zum Menschsein, wie alle Talente und Defekte. Aber sich selbst, gar einander etwas antun, am Besten im Beisein des Anderen? Da hört‘s auf. Wenn dir beim Schwimmen im Meer ein Hai ein Bein abbeißt, wirst du in diesem Leben nicht mehr ins Wasser gehen.

Versteht jeder.

Wir sollten uns mit Menschen umgeben, die uns guttun; gibt genug Verrückte, Deformierte und moralisch Entgleiste, die unsere Nerven rauben; wir sollten uns daher nie scheuen, solche Exemplare aus unserem Einkaufsagen rauszunehmen und sie zu den anderen Pfandflaschen ins Regal zurückstellen.

Familie eingeschlossen – auch sie steht nicht unter Artenschutz.

Vor kurzem lud Wolfgang mich überraschend zum Dinner ein. Schon ewig hatten wir uns nicht mehr ausgetauscht, geschweige gesehen. An nachdenklichen Abenden machte ich mir Sorgen um ihn; introvertiert, still und gleichzeitig feinsinnig wie er nun einmal ist, kommt man schnell auf dunkle Gedanken. Umso größer Erleichterung und Freude: Er hätte seine große Liebe gefunden. Sie wollten für mich kochen.

Gerührt nahm ich die Einladung an.

Ich freute mich riesig für ihn, nicht nur, weil sich meine Sicht auf die große Liebe schon vor „Feuchtgebiete“ eingetrübt hatte. Zwanzig Uhr. Wolfgangs Eigentumswohnung liegt in einer stillen Wohngegend mit gepflegten Altbauten. Namentafeln aus poliertem Messing. Nur kurz tipp ich seine Klingel, schon summt der Öffner. „Herzlich Willkommen“, flötet es aus dem Lautsprecher.

War das Wolfgang?

Gespannt stieg ich die knarzende Treppe hoch. Im letzten Stock ging die Tür auf. Neugier und Anspannung waren nicht zu überbieten. Schon bog ich um die letzte Treppen-Biegung. „Hallo mein Lieber, schön dass du da bist; wir freuen uns riesig!“, strahlte er überschäumend.

„Ich mich auch!“,

gab ich gerührt zurück. „Komm rein…“ Langsam schritt ich in seine Wohnung die er offensichtloch renoviert hatte. „Hier“, ich hielt ihm den Roten hin, „ich hoffe es passt zum Gericht“ und wartete gespannt auf seine neue Freundin.

„Wir haben schon alles vorbereitet, komm setz dich…“

Er nahm mir meine Jacke ab und führte mich feierlich zum Tisch. „Schatz, schau mal wer da ist…“ Schatz hatte ich ihn fünfzehn Jahre nicht rufen hören. Gespannt wie ein Flitzebogen versuchte ich mich mit dem Beobachten seiner Wohnung zu beruhigen.

Alles schien am alten Platz.

Platten- und Büchersammlung genauso, wie sein ellförmiges Sofa. Die neuen Bilder, sowie die sandfarbenen Wände strahlten Gemütlichkeit aus, unterstrichen von frischen Schnittblumen, die mit Geschmack ausgesucht worden waren.

„Katarina ist noch im Bad, sie nimmt sich Zeit, wenn sie sich schick macht“,

sagte Wolfgang nicht ohne Stolz. Ich verstand ihn. Viele Männer fühlten sich erst als vollständiger Teil der Gesellschaft, wenn sie eine Dame mit Kultur und Geschmack an ihrer Seite haben. „Komm, wir stoßen schon mal an, sie kommt gleich dazu…santé!“, wir ließen unsere Gläser klirren.

„Zum Wohl, mein Lieber – und herzlichen Glückwunsch!“

Rosé-Champagner, Wolfgang hatte sich verändert; Frauen haben großen Einfluss auf uns. „Schatz…?“ Mit nervösem Unterton rief Wolfgang Richtung Schlafzimmer; Kunststück, bei seiner Vergangenheit. Plötzlich stand er auf. „Ich geh sie mal holen, sie ist sehr schüchtern…“, flüsterte er mir zu. Während er mir zuzwinkerte sah ich auf Katarinas leeren Platz, den sie in wenigen Sekunden füllen würde.

„Du siehst großartig aus, einfach bezaubernd, mein Schatz!“

Hörte ich ihn im Schlafzimmer sagen. Aufgeregt begannen meine Füße zu wippen, während ich am Champagner nippte und den Lichtern der Stadt zusah. Wie festgenagelt blickte ich auf die Stadt, als ich Schritte hörte und bemerkte,

wie Stühle geschoben wurden.

Ich lächelte still in mich hinein; freute mich riesig für Wolfgang. „Katarina, darf ich dir meinen besten Freund vorstellen?“ Noch immer auf die Stadt stierend, wollte ich die Spannung auskosten. Voller Neugier drehte ich mich um.

Und sah in die toten Augen einer Gummipuppe.

Erschrocken krampften sich meine Hände am Tisch fest. Wolfgang überging das und tat, als würde er‘s nicht wahrnehmen. Stattdessen spulte er sein Programm ab. „Was meint ihr, soll ich die Vorspeise holen?“ Wieder dies Zwinkern. Aus tausend und einem Grund fühlte ich mich hundeelend. Wolfgang machte sich in der Küche zu schaffen und pfiff ein fröhliches Lied,

während Katarinas Plastikaugen durch mich hindurchlächelten.

Sie trug ein aufreizendes Kleid. Vermutlich hat er der Verkäuferin augenzwinkernd erzählt, dass es ein Art Überraschungsgeschenk für Schatzi ist. Sogar Dessous trug sie, Lippenstift, Stilettos, einfach alles, was Frauen aus Wolfgangs Sicht brauchten. Sie sah Maria zum Verwechseln ähnlich. Größe, Haarfarbe, einfach alles. Schon schwebte mein Kumpel ins Wohnzimmer.

„Entenherzen in Knoblauchbutter – guten Appetit!“ Wieder dies Zwinkern.

Meine Hände hielten sich immer noch krampfhaft am Tisch fest. Schnell trank ich einen großen Schuck, um meine Nerven zu beruhigen. Mir war zum Heulen und Lachen zumute. Alles gleichzeitig. Ich schnitt ein Stück Entenherzenhälfte ab und kaute vorsichtig drauf herum; es schmeckte vorzüglich; ich dachte an befreundete Paare, mit und ohne Kinder; in Beziehungen ließen Menschen keine Gehässigkeit aus.

Seltsamerweise, oder vielleicht gerade deswegen – blieben wir.

Auch dachte ich an meine Kumpels, wie einer nach dem anderen in Ketten gelegt wurde; oder sich in Ketten hat legen lassen; wie war das bloß möglich; gab‘s nichts dazwischen? Nur Elend? So oder so? Junggeselle auf ewig, oder zwei Heulbojen, die gemeinsam untergehen? Ich dachte an den youtube video

„Leck sie um den Verstand“

von Erotik-Coach Marina Deluca; an Gleicberechtigung und die neue sexuelle Befreiung, die nichts daran änderte, dass wir Menschen das Talent haben, zusammen zu vereinsamen, wenn wir nicht aufpassten. „Schmeckt es dir?“ Wolfgang riss mich aus meinen Gedanken.

Irgendwie war ich ihm dankbar dafür.

Mein Schock hatte sich gelegt. Erneut sah ich Katarina ins Gesicht. Sie hatte einen sinnlichen Mund. Mit neuen Augen sah ich meinen Kumpel von der Seite an. Still vor sich hinlächelnd, kaute er auf den Entenherzen rum; sie waren ihm wirklich gelungen; die meisten werden hart, weil sie zu viel Hitze bekommen; hin und wieder prostete er Katarina und mir zu.

Plötzlich war ich unglaublich stolz auf ihn.

Und ergriffen, von Wolfgangs Vertrauen. Was musste im Kopfe dieses Mannes vorgehen, der mit einer Gummipuppe glücklich war und den Mut aufbrachte, mich zum Essen einzuladen? Wer war ich, darüber zu urteilen, nur weil’s „weird“ ist, nicht der Norm entspricht; ist es nicht genauso irritierend, wenn man seinen Hund liebevoller behandelt, als den Partner? War es nicht noch verrückter, wenn man unter solchen Umständen blieb?

„Köstlich – wirklich, Wolfgang: Ganz ausgezeichnet!“

Ich hob mein Glas, sah meinen Kumpel offen ins Gesicht. Überglücklich strahlten seine von Freudentränen geschwängerten Murmeln. Leise, mit ergriffener Stimme hauchte er „Danke, das du gekommen bist“, über den Tisch. Wir prosteten uns mehrmals zu. Heute hatte ich meinen Kumpel wiedergewonnen.

Er war glücklich.

Hoffentlich hatte seine geschundene Seele Frieden gefunden. „Auf euch zwei“, hob ich mein Glas an, „Auf uns drei, mein Lieber!“, setzte Wolfgang überglücklich drauf; die vielen Perlen im Glas ließen ihn aufstoßen. „Tschuldigung“, flüsterte Wolfgang über den Tisch und sah dabei zu Katarina und mir herüber; ich war an der Reihe, ging in die Küche,

kam freudestrahlend zurück und schenkte Champagner nach…

11.September – Zwei Türme – Odyssee 2022

9/11 erinnert jeder. Besonders die Bilder. Wie’n Hollywood-Film. Nicht ganz ernst zu nehmen, aber – beeindruckend. Nur war diesmal alles „echt“, allerding ohne Tom Cruise und Mel Gibson. Stunden blieb ich in Aufruhr. Ich glaube es war Ulli Wickert, der in‘ner Sondersendung davon berichtete. Gerade machte ich Besorgungen in Ahrensburg.

Einfach unglaublich, dachte ich!

Ich zog meine Freundin am Ärmel, „Warte Süße – schau mal!“, „Was denn?“, ich zog stärker, „Na, der Wickert da – schau mal die Bilder!“. Mit offenem Mund standen wir vor riesigen Bildschirmen der Elektronik-Abteilung von Nessler Ahrensburg.

Doch da stecke viel mehr dahinter, als ich zuerst begriff.

Im Nachhinein erschütterte es mich ähnlich, wie der 24.Februar 2022. Beide Events sind nicht vergleichbar und doch sind sie es, weil beide für mich als unvorstellbar und unwünschbar galten. Ist wie mit uns Menschen. Jeder ist ein Niemand und doch hat jeder moralische Pflichten, sein Menschenmöglichstes zu tun.

Wer / Was sonst?

Mit RU ging’s mir ähnlich, und doch ging ich leichter darüber hinweg. Liegt am Alter. Man hat mehr Bücher gelesen und mehr erlebt. Man wundert sich und doch tut man es überhaupt nicht. Menschen sind zu Allem fähig.

Wie mein damaliger Nachbar.

Nie werde ich vergessen, wie er bei dreißig Grad im Schatten mit Gasbuddel und Flammenwerfer das Unkraut seiner Auffahrt verbrannte. Einzelne Teil-Elemente, dieses menschlichen Gesamt-Kunstwerkes sind bereits ikonenhaft.

Als er dabei aus Versehen unsere Grenzhecke

niederbrannte und die Flammen auf den benachbarten Wald überschlugen, dass unsere Feuerwehr zum Großeinsatz ausrückte, ließ mich staunen. Gewundert hat’s mich aber nicht. Wochen später klingelte er an der Tür. Er schlug vor, ‘ne neue Hecke zu pflanzen und die Kosten aufzuteilen. Ich fand die Idee super.

Meine Freundin – begrenzt.

Wir saßen am Abendbrottisch, als es an der Tür klingelte. „Schatz, gehst du?“, wie immer, „Gerne, Süße!“. Ich öffnete die Tür mit einer weit ausholenden Geste. Freudestrahlend stand da unser Firestarter. „N’abend Günther, wie geht’s dir?“ Ich roch seine Bierfahne. Manchmal lud er zum Jever ein, rief dann über’n Zaun. Wir quatschten Stunden.

„Ja-ja, danke – und selbst?“

Ihn interessierte es wirklich. Ich sah nach hinten und lächelte ihn offen an, „Muss ja, kennst ’es ja…“ Er verstand meinen Humor, den ich einsetzte, um Eis und Formalien zu brechen. Seine Haare erinnerten an Lex Barker in grau, seine Figur eher nicht. Seine an den Knien ausgebeulte Jeans nutzte er im Garten, die seinen verjährten Leistenbruch unübersehbar präsentierte.

Seit Jahren ging das schon so.

Langsam schoben sich Bauch und Gemächt unterm Gürtel hindurch, das es aussah, als hätte er Hosentaschen und Unterhose mit Murmeln und einer nicht mehr ganz erntefrischen Karotte bis zum Bersten gefüllt. Seine erdverkrusteten Hände blieben auch nach Minuten gekrümmt, als hätte er eben gerade seine zwölft geliebten Trompetenbäume umgetopft.

„Sag mal, wollen wir ‘ne neue Hecke pflanzen?“

Wunderbar, wie immer ohne Umschweife. Mittlerweile hatte ich mich an die abgebrannten Stubben und die restlichen traurigen Überreste gewöhnt. Irgendwie hatte das was. So wie die Nikolai-Kirche, die aussieht, als wäre sie erst gestern verbrannt. Ich kratzte mein Kinn, runzelte die Stirn und nickte ernst, um neutrale Offenheit zu signalisieren. „Hm, klingt ganz vernünftig“, gab ich ehrlich zurück.

Günther lebte alleine in seinem großen Haus.

Sein Garten hatte ’nen eigenen Wald, den er mit uns teilte und eine lange, wunderschön gewundene Auffahrt. Ständig war er zu Gange. Wenn er nicht auf sei‘m Traktor saß, Holz hackte, Bäume pflanzte, sein Haus renovierte oder einen Großbrand verursachte, saß er vorm Fernseher und trank abwechselnd Bier und Remy Martin. Zwei Söhne hatte er gezeugt. „Beides Nieten!“, sagte er gerne. „Reisen rum und verprassen meine Kohle!“

Günther wollte Opa werden.

„Ihr könnt ja mal drüber nachdenken und wir schnacken die Tage, okay?“ Ich mochte seinen Vorschlag. Auch die Art, wie er ihn vortrug. Immer ließ er Raum, um sein Gesicht zu wahren und genug Zeit sich Gedanken zu machen. Diskretion und Höflichkeit waren ihm wichtig.

Ich mochte Günther.

Leise schloss ich die Tür und ging zurück zum Tisch, wo meine Freundin mit den Fingern trommelte. „Und? Was wollte er…? Wunderbar, wie immer ohne Umschweife. „Günther schlägt vor, dass wir ‘ne neue Hecke pflanzen…“, sagte ich und blickte schuldig auf den Teller vor mir. Es würde ein langer Abend werden. „Schön, dass er das einsieht; ich habe wenig Lust mir noch länger dies verkohlte Skelett anzuschauen…!“

Ich gab mir einen Ruck.

Nun kam der schwere Teil. „Günther schlägt vor, dass wir uns die Kosten teilen.“ Was nutzte es, länger drumrumzureden? Indirekte Ansprache mochte sie nicht besonders. Endlich war es raus. Schon zogen dunkle Wolken auf. Langsam senkte sie den Kopf, wie ein Stier der einen auf die Hörner nehmen will.

Dabei ist sie Jungfrau.

Schon zogen sich die Augenbrauen zusammen und bildeten ein stolzes Vau. Ihre Mundwinkel sanken weit hinunter und zuckten unruhig. Lange konnte es nicht mehr dauern. Als ihre Hände sich am Kopfende abstützten war es soweit.

„Was? Ist Günter nicht ganz bei Trost?“, ich ahnte es.

Sie war nicht überzeugt. Es ging weiter. „Erst verbrennt er sie, beinahe samt seiner Reetdachvilla und unserem gemeinsam Wald – was nur deswegen verhindert wurde, weil wir ihm mit Gartenschläuchen halfen – und jetzt will er eine neue pflanzen,

die WIR mitbezahlen?“

Beim „wir“ zuckte ich zusammen. Sie fauchte förmlich. Das konnte was werden. Ich dachte an Henry Kissinger und Helmut Schmidt. An Franz-Joseph Strauss und Herbert Wehner. Wie schafften die es zusammenzukommen? „Was hast du dem Traumtänzer geantwortet…?“ Wunderbar! Schöne Abkürzung, dachte ich. „Nun….“, ich suchte meine Worte zusammen, „Ja, ich höre..?“, sie konnte eine Kreissäge sein. „Nun, ich fand seinen Vorschlag ganz vernünftig; schau mal, wenn er die Hecke…“

Weiter kam ich nicht.

Schon rollte ein Tsunami an. „Wir zahlen keinen Pfennig, damit das klar ist!“ Sie war die geborene Diplomatin. „Magst du Günther…?“ Ich wollte ihr helfen sich wieder abzukühlen. „Was soll DIE Frage denn jetzt?“ Ich setzte nach. „Wir haben doch ‘ne tolle Nachbarschaft mit ihm…“ Sein Möglichstes sollte man immer versuchen, dachte ich. Meine Feststellung sollte sie einladen, die Straßenseite zu wechseln.

Mal schauen, dachte ich.

„Natürlich, Gott sei Dank, warum kommst du jetzt damit…?“ Sie begann sich neu zu erhitzen. „Schau, Süße…“ Sie zeigte ihre Kralle,n „komm mir nicht mit Süße!“, eigentlich ist meine Freundin ganz anders, sie hat nur wenig Möglichkeit es zu zeigen. „Wir können doch erst mal abwarten, was rauskommt; wegen 300 Ocken eine freundschaftliche Nachbarschaft zu gefährden fände ich ziemlich unklug, meinst du nicht?“

Endlich! Das saß.

Sie kaute einige Zeit drauf rum. Waren ihre rauchenden Colts leergeschossen? Noch schien die Gefahr nicht gebannt zu sein. Man brauchte Geduld mit ‘nem Cowgirl. Ihre Gesichtszüge wurden weicher. Langsam schob ich ein vorsichtiges Lächeln über mein Gesicht. Sie kniff ihre Augen zusammen. Ein Anflug Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Manchmal bringst du mich WIRKLICH aus der Fassung…“

Das hatte ich schon mal gehört. Aus ihrem Mund klang es schön. Fassung verlieren, ist was Angenehmes. Nach den richtigen Worten suchend, legte ich mir ein paar Gesichtszüge zurecht, die nicht zu frech, aber auch nicht zu unverbindlich aussahen. „Es scheint mittelfristig, insbesondere von den Auswirkungen, sehr angenehm und positiv zu sein…“

Augenzwinkernd stand ich vom Tisch auf und schenkte Wein nach…

04.September – Karl der Große – Odyssee 2022

Gegen Morgengrauen wachte ich auf. Keine Ahnung warum. Ich befand mich irgendwo in einem Loft, dass ich über AirBnB gemietet hatte. Großer Raum mit Küche, Essecke und integriertem Salon, bestimmt 100 Quadratmeter. Fenster mit durchsichtigen Vorhängen bis zum Boden,

direkt vor der Akropolis.

Draußen schnauften Reisebusse durch die engen Gassen. Irgendein Nachbar hustete sich die Seele aus dem Leib. Eine Frau schrie Unverständliches durchs Treppenhaus. Ein Mann schrie zurück. Ein Kind weinte. Hupende Busse, Autos und Motorräder. Athen.

Lag ich immer noch zu Füßen der Akropolis?

Sicher war ich mir nie. Manchmal wusste ich nicht mehr wer ich war, geschweige wo. Ein gespenstiges Gefühl, wie in ’nem unbekannten Körper aufwachen. Wie weißes Papier, unbefleckt, leer, ohne Inhalt und Geschichte. Zum Glück hielt das nie lange an. Ich wälzte mich im Bett von links nach rechts.

Nichts zu machen – WACH!

Langsam drehte ich mich auf den Rücken, blickte durch die offene Schlafzimmertür in den Salon, dessen breite Fensterfront von Jalousien abgedunkelt war. Olivenduft hatte über Nacht die Luft durchzogen. Rotwein, Sardinen, Orangen.- und Zitronen schwebten ebenfalls über’s Parkett.

Die Vorhänge schliefen noch.

Langsam sanken meine Augenlider nieder. Ich würde es den Gardinen und Sardinen nachmachen. Doch irgendwie blieb ich unruhig. Keine Ahnung wieso. Langsam hoben sich meine Lider wieder, ganz leicht, gerade so, dass Bud-Spencer-Sehschlitze Licht bekamen, um, ja was eigentlich? Keine Ahnung. Irgendwas machte mich unruhig.

Vermutlich mein Über-ES.

Herrlich der Übergang vom Dösen zum Wachwerden. Links von der geöffneten Tür stand ein stummer Diener. Rechts ragte ein Bettpfosten schemenhaft ins Halbdunkel, wie der „Phare de la Jumont“ vor Ouessant am Morgen, bei steifer Brise und Restalkohol.

Wie die Grabkammer des Tut-ench-amun schlummerte der Salon.

Das Sofa zeigte seine linke Schulter; seidenmatt glänzte das Parkett; mühsam beugte sich die elegante Stehlampe im Halbkreis über den Sofatisch; „ziemlich symmetrisch gerafft“, dachte ich, als ich die Vorhänge betrachtete und der Morgen begann, ungeduldig durch alle Ritzen zu drücken. Fast legte ich ab und segelte hinfort.

Doch halt – was war das?

Augen und Ohren horchten angestrengt ins Halbdunkel. Hörten wir was? Ein leises Trippeln, als wenn kleine Kobolde wie Pumuckl oder die Fraggles, die Bude unsicher machten? Oder hatte Herr S. Recht und ich wurde langsam paranoid?

Da war was! 

Wie Joachim von Ribbentrop vor der Urteilsverkündung lauschten Augen und Ohren. „Ich mag den cremefarbenen Ton der Chiffon-Vorhänge…“, murmelte mein Selbst. Plötzlich sprang mir ein dunkler Fleck ins Gesicht.

Was war das?

Am oberen Ende des Vorhanges, wo man den dünnen Chiffon, was auch immer man für ‘nen hauchfeinen Stoff wählte, doppelt oder dreifach zur festen Bordüre vernäht hatte, sah ich ‘nen dunklen Fleck. Bewegte er sich? War er vorher schon da? Oder hatte ich die Gardine gestern lediglich stärker gerafft, so dass sich Schatten bildete?

Vermutlich. Zufrieden döste ich ein.

Irgendwann schoss ich hoch. Vergessen waren dunkler Fleck und buntes Duft-Sortiment. Ich sah aufs Schmartfohn. Halb elch. Fühlte mich ibesser. Voller Energie sprang ich aus’m Bett, missbrauchte den chromfarbenen Metalltopf, der fürs Mixen von Getränken und nicht zum Kochen von griechischem Kaffee gedacht war.

Is like türkischer Mokka – oder umgekehrt?

Gedankenfrei sah mich die Wohnung an, während brauner Sumpf köchelte. „Nett gemacht; viel Raum, wenig Schieh-Schieh und Deko“ Ich öffnete die hinteren Jalousien zur Akropolis – „Licht reinlassen!“ Auf der gegenüberliegenden Seite massierte uns die Sonne. „Nee-nee“, lachte ich, „du bleibst schön draußen“ und blickte in Richtung Fensterfront, als ich vom Blitz getroffen – zusammenfuhr:

Ein dunkler Fleck!

Diesmal in frontaler Vorderansicht. Kein Schatten, keine Bordüre, oder dergleichen. Da saß etwas. Doch was? Eine Spinne? „Meine Güte, ist die groß…!“ Angst hatte ich nicht vor Insekten, aber ab gewisser Größe sagen wir mal – Respekt!

Langsam ging ich näher. Und näher.

Meine Schritte wurden kleiner, je dichter ich kam. ES hatte ‘ne stattliche Größe, fast mein Handteller. Zwei Meter bis zum Vorhang. Eins-fünfzig. Einen Meter. Unverändert starrte ich den Fleck an, der was zum Henker denn nun – war?

Eine gewaltige Küchenschabe!

„Du liebes Bisschen, bestimmt vier bis fünf Zentimeter lang; was für lange Tentakeln du hast; mindestens so lang wie die Schnurrbarthaare von Mantacore, dem weißen Tigger von Siegfried und Roy“ Längst dachte mein Gedächtnispalast an „Die Verwandlung“ von Kafka und den / das Video „Breathe“ von Prodigy.

„Ha’m wir‘ne Fliegenklatsche? Wird nicht langen, der Name sagt‘s schon“

In der Küche hörte ich leises Blubbern. Aus unerklärlichen Gründen dachte ich, dass jenes Geräusch vom großen Bruder der Küchenschabe kam. „Hat vermutlich gefeiert und lässt sich den Abend durch’n Kopf – hoffentlich – in die Spüle gehen!“ Bereit den Kampf aufzunehmen, rannte ich in die Küche.

War nur mein hellenischer Mokka, der mit den Fingern trommelte.

Unüberlegt griff ich nach dem verchromten Topf und hörte leises Zischen, als die Haut von Daumen und Zeigefinger brannte. Es dauerte nicht lange, bis Wellen des Schmerzes meinen Gedächtnispalast fluteten.

„Fuck-Fuck!“

Was für ein Tag. Wütend hielt ich meine verbrannten Finger untern Wasserhahn. Kurz darauf rannte ich zur Kommode, wo mein Motorradhelm lag und kramte meine Handschuhe heraus. „Ha-ha – jetzt bist du fällig; ich mach dich fertig, sag good-bye zur schönen Welt!“

Fix füllte ich kochenden Kaffee um,

wusch den Chromtopf, trocknete ihn mit speer-esker Sorgfalt, drehte auf dem Absatz, stürmte wie William Wallace bei Braveheart zum Vorhang und warf im Lauf meine Lanze auf den vermaledeiten Feind, äh – mein Geschirrtuch auf die Schabe. Sofort raste das riesenhafte Insekt die Gardine herab.

„Boah, bist du schnell, das kann ja was werden“

Bereit zum Kampf stoße ich den schweren Ledersessel beiseite, um freies Schussfeld zu haben; ich erinnerte „Karl der Käfer“ aus meiner Jugend; schon damals mochte ich den Song; währenddessen krabbelte Karl die Gardine wieder hoch.

„Großartig – grenzt an Märtyrer-Todt; hast du‘n letzten Wunsch?“

Sekunden stand ich vor Karl dem Großen am Fuße der Gardine in seinem Kaiserpalast. Karl bewegte sich mit dem Saum, der mich an den Umhang von Clark Kent erinnerte. „Wie weit können Schaben springen“, fragte ich mich.

„Was, wenn er springt und sich an Kopf oder Hals festbeißt?

Wir wissen was Zecken können, was soll da erst so’n Brummer auslösen, ne neue Pandemie?“ Kurzfristig dachte ich an Helm. Mut einredend klatschte ich die Lederhandschuhe zusammen. „Los komm schon, sei kein Feigling!“

Höhnte ich und bekam Angst, als ich mir zuhörte.

Karl saß fest. Feierlich stieß ich Tisch und Sofa beiseite. Exekutionen brauchen Platz. Entschlossen schüttelte ich Karl wie Fallobst vom Baum. Krachend schlug sein Chinin-Panzer auf den Boden. Klang erwachsen. Doch sein kaiserlicher Glanz war dahin. „So schnell kann’s gehen!“ Karl rannte los. „Verdammt bist schnell!“

Wie Carl Lewis rannte ich hinter ihm her.

Ben Johnson würden wir nicht unterbieten, aber nur wenige bewegten sich diesen Morgen so schnell wie wir. Karl schaltete den Turbo ein. „Wahnsinn, was‘n Glück das du kein Springer und Flieger bist; nicht auszudenken, wenn du mir bei voller Fahrt gegen den Motorradhelm knallst!“. Genau jener Gedanke machte meine Mission – groß!

Schon sprang ich.

Wie Supermann flog ich über Karl und sah, wie er sich unter mir abstrampelte; schon bekam ich Mitgefühl. Was, wenn er Familie hatte? Vielleicht war alles nur ein Missverständnis und wir sollten als Europäer miteinander reden.

Aber griechische Schaben?

Ich tue mich schon mit Deutschen schwer. Lykurg und Leonidas jedenfalls hätten mich ausgelacht, wenn ich jetzt zögerte. Vermutlich lachten sie sowieso, weil ich Handschuhe trage, um‘ne Schabe zu erschlagen, während die mit Sandalen auf Perser losgingen.

Ich gehe mit Sandalen nicht mal vor die Tür,

geschweige nach Persien! Es gab kein Entrinnen für Karl. Ich entschloss zuzuschlagen. „Bamm!!“, schon sauste meine Vollstrecker-Hand nieder und schlug so stark auf‘s Parkett, dass die stille asiatische Touristin im Stockwerk über mir vor Schreck einen Pups machte und errötete.

„Hab ich dich! Ein Schurke weniger!“, frohlockte ich.

Und rannte siegreich zur Küche, um mein Kalumet zu entzünden und mit den Göttern Friedenspfeife zu rauchen – und – mir Wein einzugießen. „Ist schon Mittag“, dachte ich. „Doch zuerst Tatort reinigen“ Mit Haushaltstuch bewaffnet sah ich Karl platt vor mir liegen. Als ich ihn packen wollte, strampelte er plötzlich mit Beinen und Armen.

Erschüttert fuhr ich zurück.

Was für ein Lebenswille. Kam Karl aus Sparta? „Warum habe ich Karl nicht einfach rausgetragen? Er könnte mit Kumpels einen Trinken! Zu spät, hättest du früher drauf kommen sollen!“, ging ich mit mir hart ins Gericht. Jetzt musste ich Karl erlösen, oder in die nächstbeste Asklepios-Klinik bringen. Dort heilt man ähnlich lebensverlängernd.

Ein zweites Mal donnerte meine eiserne Faust aufs Parkett.

Diesmal spürte ich, wie Karls Leben durch meine behandschuhten Finger rann. Voller Respekt und Pietät nahm ich seine irdische Hülle und legte sie feierlich auf den Balkon des Nachbars unter mir in die warme Athener Sonne.

„Mögest du größeren Tieren

ein Festmahl sein und den evolutionären Kreislauf moralisch wertvoll schließen, wie eine erfolgreiche Bilanz am Ende eines zufriedenen Lebens!“, schloss ich meine Andacht. Karl der Große wäre so oder so, wie wir alle, irgendwann gestorben.

Ein glorreiches Ende in ruhmreicher Schlacht,

vermutlich der sehnlichste Wunsch eines maskulinen virilen Lebewesens in zweiter Lebenshälfte. Karl aus Sparta – und ich – der fünfzig jährige Vollstrecker aus Theben. Hätte nicht gedacht, dass ich mal Sparta besiege.

Doch am Ende gab’s ausgleichende Gerechtigkeit.

Insekten überlebten uns

Menschen…