Archiv für den Monat: August 2016

Sissyphos

Ich saß in den Dünen. Struppiges, ein wenig störriges Gras wucherte hier und da. Man meinte zu glauben, dass es überall wachsen könnte. Ich sah in die Ferne. Mein Atem ging ruhig und langsam. Hin und wieder schweifte mein Blick träge umher. Mal links, ein anderes Mal nach rechts. Wind peitschte mich durch. Manchmal aus. Ich glaube er war sauer. Eine Mischung aus Überraschung und Anerkennung, weil ich immer noch da war. Mächtig zerrte er an mir. So wie der Sand, der sich aufgeregt mitreißen ließ, der Finger und Wangen wie tausend kleine Stecknadeln malträtierte; so wie seine senffarbenen Körner, die in meine Augen sprangen und boshaft Lied und Auge zu Tränen raspelten; so wie das abgerissene Gesträuch, den der Sturm über den menschenleeren Strand fegte; so wie all den Dreck und Unrat, den man mir um die Ohren bläst und mich zum Verspeisen zwingt; so wie das Leben.

Ungeduldig wuchs das junge Jahr in die Höhe, forderte wild und mächtig, rüttelte an mir rum, scheuchte mich auf und hoch. Bevor ich mich versah, pustete der stürmische Wind Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen daher, die hier und da sich manchmal in meinen Wimpern verfingen, energisch festklammerten und herumwippten, als wäre ich ein Ast, dessen Obst man durch wüstes Gezerre zum Herunterfallen zwingen musste. Nie hörte es auf. Soweit mein fröhlich Äug auch sehen mochte: Überall dasselbe. Grotesken siegten immerzu. Mit gezeitenhafter Zuverlässigkeit, wurde jedes kleine Licht, dass mein Gemüt im trüben Grau des Weltenwahnsinns erhellen wollte, mit stumpfem Stil und schwerem Hammer eingefangen und in den Hades der Bourgeoise gesteckt, dass jedes Leuchten das Weite suchte. Was nützte einem das Fliehen? Was, das Ausblenden, spürte man doch, dass das Absurde sich vor einem biblisch auftürmte und weiter wuchs?

In weiter Ferne spazierte ein Hund mit einem Mensch. Unregelmäßig drehte er seinen Kopf, sah sich um, ob der Zweibeiner verlorengegangen war. Zwei untrennbar miteinander Verbundene; des Hundes bester Freund. Strandgut lag herum. Des Himmels schmieriges Grau verschmolz mit dem matten Metall der Nordsee, die ihren Glanz von der drahtigen Windenbürste abgekauft bekam. Fauchend schrie der Wind zuweilen auf, heulte sich weiter unter die Haut. Es war grausig kalt, so sehr, dass selbst die Knochen zitterten. Der arktisch-beißende Wind ließ Solschenizyns Gulagimpressionen hochkommen. Zerzauste Schaumkronen, hüpften auf den Wellen, zeigten mir meinen Platz in der Welt. Viel galt es zu tun, um ein wenig Stille und Frieden zu bekommen, war er auch fragil, wo ein jeder an ihm rüttelte und hoffte das babylonische Glück zum Einsturz zu bringen.

Ich griff das verfilzte Dünengras, ließ es durch meine klammen Finger gleiten. Gierig biss es sich in meiner Haut fest, riss an meinem Fleisch. So wie es alle fleischfressenden Pflanzen taten. So wie die Zeit. Ich dachte an den Morgen. Gut, wie der Leibarzt des Papstes hatte ich geschlafen. Geträumt hatte ich, viel und beeindruckend, dass selbst Morpheus anerkennend genickt hätte. Nach einiger Zeit bemerkte ich den fragenden achteckigen Duschkopf, der über mir wie eine Guillotine baumelte. Offensichtlich war ich aus dem Bett raus. Hallendlaut geschwiegene Worte starrten die Brause an, als wäre sie ein Vogel Strauß, der mit seinem Kopf hoch über uns aufgeragt zu uns herabschaute. Meine Füße wurden kalt, versuchten sich einzurollen und festzukrallen, als würde ich auf einem Ast sitzen. Begriffe waren so ersetzbar wie das große Alles.

Ich dachte an meinen Traum. Es war wieder der Turm. Er kam jetzt immer häufiger vor, besuchte mich fast jede Nacht, wie ein gieriger Alb der seine lästigen Geschichten loswerden wollte. Riesig groß türmte er sich vor mir auf. Ich sah einen Eingang. Da war eine Treppe. Wie viele Stufen es wohl waren, bis man ganz oben war? Vielleicht war es ein Leuchtturm, oder so was? Langsam, fast vorsichtig, um den Turm ja nicht aufzuwecken, ging ich zum Eingang. Um mich herum ein Meer von Irgendwas. War es Wasser? Felder, Steine oder die Steppe der Belanglosigkeit? Ich erinnere es nicht mehr. Ich begann mit dem Aufstieg. Er war lang, so wie der Einkauf im Supermarkt zu Sylvester, kurz vor Ladenschluss. Jedes Jahr dachten die Menschen, dass sie Neujahr nichts mehr bekamen. Vorratskammern wurden gefüllt; selbst die unnötigsten Dinge wurden gekauft, jene die man das ganze Jahr erfolgreich gemieden hatte; selbst in die dickste Schlange reite man sich ein, um den Zeitpunkt der letzten Zahlung soweit es ging hinauszuzögern und alle zeitlichen Möglichkeiten miteinbeziehend, an die letzten kleinen Dinge, Jene die man dann doch vergessen hatte, ganz überraschend einfallen zu sehen. Siebzig. Mittlerweile war ich schon eine Weile die Treppe hochgewandert; irgendjemand zählte mit.

Nach einer Weile kam ich oben an. Gute Sicht. Weit und klar. Jedoch das gleiche Feld der Bedeutungslosigkeit wie unten. Nur mit mehr Sicherheit, dass sich auch in größerer Entfernung nichts ändern würde. Komischer Aufstieg. Bekam man nicht meistens ein Hochgefühl geschenkt, wenn man den Aufstieg schaffte? Bekam nicht auch der Bergsteiger Eines, wenn er den fünftausend Meter Hohen besiegt hatte? Waren Ziele alleine nicht Grund genug sie anzugehen?

Mit einem riesigen Fragezeichen im Gepäck und im Gesicht machte ich mich an den Abstieg. Wo war da der Sinn, wenn das Ziel keines war? Während ich gemütlich vor mich hin weiter und immer weiter hinabschritt, fing ich aus unerklärlichen Gründen an zu lächeln. Immer breiter und breiter. Komisch, dass der Aufstieg immer länger, als der Abstieg dauerte. Warum auf einen Berg gehen, wenn das Ziel nicht der Erwartung entspricht? Hatte man immer welche? Warum sich bemühen, wenn die Mühe so wenig lohnte?

Wieder weite Ferne. Hund und Mensch gingen längst getrennt. Ich sah, wie eine riesige Distanz zwischen den beiden klaffte. Der Wind hatte meine Hände, trotz der dicken Handschuhe, völlig ausgekühlt. Beißend grub sich die Kälte eine Welle kratzender Unterkühlung in mein Fleisch. Der Sand schmirgelte mir die Gesichtshaut ab. Das zischende Pfeifen des Windes grub tiefe Löcher in meine Gelassenheit. Wie ein fröhlicher Eiszapfen tropfte meine Nase leise vor sich hin. Alles war absurd. Man konnte machen was man wollte, es wurde nicht besser, nicht sinnführender. Alle haben es versucht; durchbohrten die Begriffe mit ihren intellektuellen Werkzeugen wie einen Schweizer Käse; alle rackerten sich daran ab; was blieb war die Absurdität des Ganzen. Doch was war mit der Freude? War sie ebenfalls absurd? War sie so etwas wie die böse Zwillingsschwester? Was war sie? Konnte die Freude gar der Sinn sein, auch wenn er so absurd blieb, wie ein Lemming, der kurz vor dem Sprung in den Tod erkennt, dass er gerne Lemming war?

In meinem ungeträumten Traum sind alle Menschen glücklich. Jeder mit sich selbst. Manche mit sich und Jemandem zusammen. Sie alle sind Träumer eines surrealen Lebens, das sich gleich einer Wendeltreppe durch die projizierte Zeit schraubt, wissend, dass es egal ist, an wessen Leinenende, Treppenende man geht, solange man sich dessen bewusst ist und den absurden Gang in die nächste Skurrilität lächelnd, mit Freude geht. Dann hätte unser Leben einen Sinn, selbst nachdem all die Zweifler, Nörgler und Denker, die doch nur Furcht vor Selbiger haben, jeden Baum der Erkenntnis gefällt, der vom Pilz des Zweifels befallen war:

Freude!