Archiv für den Monat: Juni 2015

Paradies

Ich habe letzte Nacht gut geschlafen. Als ich am Morgen aber wach wurde sprang mir dies eine Wort ins Gesicht. Sperrig stand es in meinem Kopf rum, blockierte den ganzen Palast. Ich musste es irgendwie raus bekommen. Ich fing einfach an zu tippen. Aber irgendwas blockierte mich immer noch. Keine Ahnung was das war. Ich ging eine Runde spazieren. Und oh Wunder, wenn ich mich bewege, kommt Leben in mein Leben. Gerade setzte ich mich hin, da fing es auch schon an zu laufen.

Ich habe viel darüber gelesen. Man kann jeden fragen. Keiner wird etwas anderes sagen, egal ob Kosmopolit, Indianer, Wikinger, Römer oder Sumerer: Alle suchen danach, den brennenden Wunsch wie einen leuchtenden Schild hochhaltend, dass sie es eines Tages finden würden. Das ganze Leben drehte sich eigentlich nur um diese eine Hoffnung: Dass es irgendwann irgendwo besser sein wird. Und schöner. Es ist die Suche, das Versprechen, irgendwann an einen Ort zu gelangen, der oft Garten Eden genannt wird. Manchmal auch Himmel. Es gibt ziemlich viele Namen und Begriffe für das Paradies. Gemein aber gilt, dass dort Friede herrscht und dass es dort ein angenehmes Klima gibt. Nicht zu kalt und nicht zu warm. Das klingt irgendwie nach 25 bis 30 Grad Celsius, meine Ideal-Wohlfühltemperatur. Das Paradies ist der Ort, wo sie alle hinwollen. Egal, ob nach einem arbeitsreichen, mühseligen Leben voller Entsagung, oder nach einem Leben mit Völlerei und Luxus, wo Leid und Not den größtmöglichen Abstand zum Selbigen hatten: Alle wollen es. Alle suchen und warten darauf.

Ich war schon mal da. Vier Wochen lang. Und ich war wirklich sehr überrascht. Aber nicht so, wie ich es anfangs vermutet hatte. Das Paradies ist wirklich so, wie ich es mir dachte. Nur noch schöner. Das Paradies ist genauso, wie es in unserer Vorstellung bewahrt wird. Nur noch besser. Es herrscht tatsächlich Frieden. Das alleine ist schon schwer vorstellbar, mit all den Menschen dort. Aber damit  nicht genug: Das Klima ist wirklich fantastisch. Es ist perfekt. Die Sonne scheint, ein laues Lüftchen geht und irgendwie wachsen die Pflanzen wunderbar, obwohl ich sie in den vier Wochen nicht gegossen habe. Geregnet hatte es aber auch nicht. Das geht ja nicht. Regen ist im Paradies nicht vorgesehen. Die Natur wächst trotzdem. Und die Vegetation ist wirklich ein Traum. Alles im Paradies ist schön und harmonisch, absolut perfekt. Die Tiere und Menschen leben in Harmonie und lassen einander in Frieden. Industrielle Schlachtanlagen stehen nicht im Paradies herum, obwohl da viel gegessen wird. Wie die das geregelt haben weiß ich noch nicht. Vielleicht finde ich es noch heraus. Arbeiten generell muss man nicht. Kann man aber, wenn man möchte. Im Paradies denkt man allerdings nicht so oft ans arbeiten. Ich war so mitgenommen, von all der Schönheit und Perfektion, das meine Stimme rau vor Rührung wurde.  

Irgendwann fiel mir auf, dass bei all den Beschreibungen vom Paradies hauptsächlich die natürlichen Dinge im Vordergrund stehen. Also Pflanzen, Tiere, Menschen und Sonne, Wasser und Luft. Tolles Klima und ständig gab es köstliche Speisen, mit ebensolch köstlichen Weinen. Alle Menschen waren hilfsbereit, freundlich und nett. Im Paradies ging es mir unbeschreiblich gut. Ich würde sogar sagen, dass es mir besser ging als jemals zuvor. Ich glaube, es war das erste Mal, dass nichts fehlte. Das Paradies hatte seinem Namen alle Ehre gemacht. Ich war ergriffen davon, wie paradiesisch das Paradies war. Noch nie fühlte ich mich so behaglich und pudelwohl wie dort. Es war wirklich unglaublich wie sehr es mein Leben verändert hat, seit ich dagewesen bin.

In der ersten Woche war es einfach unbeschreiblich. Schöne Frauen gab es auch. Logisch, im Paradies fehlt nichts. Ob es Jungfrauen waren, wage ich zu bezweifeln. Trotzdem hatten sie etwas frisches und junges an sich. Sie trugen diese unbeschädigte Lebens-Freude in sich. Weil sie so waren, nahm ich das mit der Jungfräulichkeit nicht mehr so eng. Ich finde sowieso, dass man das ganze Leben nicht so ernst nehmen sollte. Jedenfalls dachte ich das damals. Sogar heute denke ich es noch. Wir sparen uns doch nicht für den besonderen Tag auf. Wir verschwenden doch hoffentlich unsere Jugend, unser Talent wo wir nur können. Jedenfalls hoffe ich, dass es mehr Menschen als ich so sehen.

Es war einfach wunderschön. In der zweiten Woche war es genauso. Alles war wie in einem unglaublich schönen Traum. Nur das er wahr war. Jeder Tag war so perfekt, so herrlich, dass mir die Superlative genauso schnell ausgingen, wie der Weißwein im Sommer. Doch dann passierte etwas sehr Merkwürdiges:

In der dritten Woche fing ich an mich daran zu gewöhnen. Wirklich. Ich fing an mich ans Paradies zu gewöhnen. Es verblasste. Ich wollte es nicht glauben. Da war ich nun am Ziel meiner Träume und fing an mich an diesen wunderschönen Ort zu gewöhnen. Gewöhnung ist für mich wie eine schleichende Krankheit. Am Anfang merkt man sie gar nicht. Manchmal merkt man sie nicht nur gar nicht rechtzeitig, sondern gar nicht. Wenn man nicht selbst wach, oder nicht von außen wachgerüttelt wird, konnte man so bis an sein Lebensende leben, ohne bemerkt zu haben, dass einen das Leben längst verlassen hatte.

Bei mir war es nur so ein Gefühl in der Magengegend. Manch einer nennt es Ahnung. Bei mir war so ein flaues Gefühl im Bauch. Ein bisschen so, wie wenn man erschreckt, als wenn man denkt, dass man seinen Zug oder Flug verpasst hatte. Nur  das der Schreck nicht so plötzlich und abrupt kam. Er schmorte unter der Oberfläche. Ich merkte lediglich, dass irgendetwas anders war. Oder nicht richtig geworden ist. Wirklich: Jeden Tag gab es fantastisches Essen. Ich lebte mit Mensch und Tier in Harmonie. Hatte unglaublich viel Zeit. Das Wort Zeit gab es im Grunde gar nicht mehr. Alles passierte zum richtigen Zeitpunkt. An dem Punkt an dem es Zeit war. Und das alles ganz ohne an sie zu denken. Ich machte und sah dass es gut war. Es war jedes Mal der richtige Zeitpunkt. Das war toll. Ich kam nie mehr zu spät. Nicht so wie sonst. Ich kam immer rechtzeitig und zur richtigen Zeit.

Die Tage fühlten sich so unendlich lang an. Wie eine ganze Woche. Alles war genauso wie ich es mir in meinem Ideal vorgestellt hatte. Und doch fing ich an mich daran zu gewöhnen. Ich verstand es nicht. Wie konnte ich im Paradies sein und mich daran gewöhnen? Meine Rituale waren bestimmt nicht der Grund. Selbst mein Morgen-Café trank ich in unterschiedlichem Rhythmen. Ich wurde sogar zu völlig verschiedenen Zeiten wach. Mal um 8, dann wieder um 9 oder 10. Manchmal sogar um 7 Uhr. Meinem Schlaf war es egal, ob wir im Paradies waren oder nicht. Wenn er genug hatte, weckte er mich. Es gab keine Regelmäßigkeiten, und doch:

In der vierten Woche wurde es noch komischer. Ich wurde richtig mürrisch. Ich verstand das Paradies nicht mehr. Wie war das möglich? Langsam machte sich das Schlimmste in mir breit, was so einem einfachen Mann wie mir passieren konnte. Es war keine Angst. Es war weder Virus noch irgendeine andere Krankheit: Es war ein Gedanke. Der Gedanke daran, dass etwas nicht mit mir stimmte. Der immer klarer und heller scheinende Gedanke, dass ich nicht für das Paradies geschaffen, nicht dafür gemacht war. Die alles erdrückende brutale Erkenntnis, dass ich das Paradies nicht ertrug, es nicht aushielt. Irgendetwas musste bei mir schiefgelaufen sein. Ich kam einfach nicht darauf was es war. Es war der immer stärker werdende Gedanke, dass ich wohl der einzige Mensch bin, der im Paradies nicht glücklich bleibt. Wie war das möglich? Das Paradies war doch für alle Menschen gemacht. Es war dafür gemacht, dass die Menschen dort glücklich werden, falls sie es in ihrem vorigen Leben nicht hinbekommen hatten. Sozusagen, so eine Art Lebensrückversicherung. Dein Leben hat nicht richtig geklappt? Du hast viel Ärger gehabt und noch mehr Mist gemacht? Macht nichts: Am Schluss kommt das Paradies. Da spätestens wirst du glücklich. Da wird alles viel viel besser. Wirst schon sehen. So in etwa wurde es überall erzählt.

Da saß ich nun und merkte, dass es bei mir nicht funktioniert. Bei mir war wiedermal alles anders. Dabei hatte ich es mir gar nicht so ausgesucht. Ich verstand es einfach nicht. Ich hatte das große Glück früh dahin zukommen und nach vier Wochen fällt mir nichts anderes ein, als es gewöhnlich und langweilig zu finden. Also das Paradies war offensichtlich der falsche Ort für mich. Dieser Gedanke setzte mir ziemlich zu. Was machte ich denn hier in meinem Leben, wenn nicht für das Paradies schuften? Während der vier Wochen wohnte ich im tollsten Haus, was ich mir nur vorstellen konnte. Ich hatte die tollsten Menschen um mich herum. Die nettesten Tiere, die schönste Vegetation die ich mir vorstellen konnte. Das Essen war das Beste. Auch die Weine waren einfach köstlich. Und die Sonne erst: Sie schien so gütig und warm, dass der Wind nur noch leise säuseln konnte. Es war alles so verdammt perfekt. Verflucht noch mal, es war in der vierten Woche nicht zum Aushalten. Nur wunderschöne Möbel um mich, tausend Jahre alte Olivenbäume um mich herum, Blumen, so wunderschön duftend und aussehend, wie die Zweibeinigen. Ich besoff mich an der ganzen Schönheit und bekam einen Rausch, das ich dachte ich bin Dionysos.

Dann kam die vierte Woche und alles änderte sich. Ich fühlte mich betrogen. Von allen. Egal ob Eltern, Freunde, Medien, Bücher: Sie alle hatten mich betrogen. Sie sprachen vom Paradies, lehrten selbst in der Schule, was es ist. Doch im Grunde redete zwar jeder davon, aber ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben. Das Paradies hat die Rechnung ohne mich gemacht. Es hat sich geirrt. Es hat nicht alle glücklich machen können. Mich jedenfalls nicht. Ich kann mit so einer perfekten Umgebung, mit so einem von permanenter Schönheit dauerüberfluteten Ort nichts anfangen. Ohne Raum für Gestaltung, ohne nicht wenigstens etwas Mangel werde ich mürrisch. So viel war mir klar. In meinem Leben musste es ein paar Defizite geben, sonst war der Ofen aus.

Doch das hatte auch etwas Gutes: Ich fühlte mich am Anfang zwar wie vom Club ausgeschlossen, wie ein Aussätziger. Aber es eröffneten sich auch ungeahnte Möglichkeiten. Wenn ich nicht im Paradies glücklich wurde, wenn ich Defizite und Mangel brauchte, um glücklich zu werden und zu bleiben. Das würde nämlich bedeuten, dass mein Paradies schon mein Leben selbst ist. Ich war schon da! Ich brauchte nicht mehr warten. Ich habe alles schon jetzt bekommen und kann es jetzt sofort genießen. Das ist doch fantastisch. Ich habe genug Mangel in mir und um mich herum. Wenn ich den brauche, um glücklich zu sein, dann bin ich es jetzt sofort im hier und jetzt. Das ist verrückt. Und meine Wirklichkeit. 

Ich grübelte noch eine Weile und fühlte mich besser und besser. Dass ich im Paradies verrückt werden würde, ahnte ich schon vorher. Das ist in etwa so, als wenn man einen Flug bucht, ohne zu wissen wo der hingeht und man ahnt, dass es dort anstrengend wird. So in etwa ging es mir mit dem Paradies. Götterolymp, Himmel, Garten Eden, Paradies: Das strengte mich alles an. Das hatte ich ihnen nie abgekauft. Noch nie geglaubt. Sollten die anderen warten und schuften, ausharren und malochen, sich selbst optimieren, trainieren und disziplinieren bis sie umfielen:

Ich würde in der Zwischenzeit einfach zufrieden und glücklich sein.

 

 

Backofen Europa

Vorgestern ging es. Den Tag danach schon nicht mehr. Und heute drückt sie einem den Teer aus den Poren, als wenn morgen gestern gewesen ist. Alles stöhnt. Menschen bleiben bei Grün stehen und fahren bei Rot los. Die Hitze lässt sie verrückt werden. Noch verrückter als sonst. Nichts geht mehr. Flugzeuge kommen zu spät, Gepäckstücke gehen verloren. Begrüßungen bleiben aus, werden von der Hitze weggeschmolzen, als wären sie zerlassene Butter. Kleidung stört ständig; mancher bewahrt sich letzten Stil; andere entgleisen stattdessen völlig und lassen die hitzegepeinigten Augen der Anderen erblinden, unfähig wegzusehen. Taxifahrer streiken für mehr Wind. Selbst ihm ist zu warm zum Wehen. Der Sommer gleicht einer Feuerwalze und zeigt uns, wie Mark in den Knochen kochen kann. Glühende Hitze kriecht das Rückgrat hoch; unser Kopf, ein glühender Güllepott.

Einen gemischten Salat bitte, schön angemacht und gewürzt mit biblischer Hitze und Griechenlandreferendum. Er lässt die Europäer wie kopflose Hühner herumrennen, während der Ami hämisch lacht, schon lange kein Freund mehr ist und Wladimir die gepeinigten Griechen mit Pipeline und Geld vom leeren Kühlschrank weglockt: Interessenaustausch, bei 38 Grad im Schatten, wunderbar. Herr Ober, ich hätte gerne Nachschlag.

Sommer mag ich; Wärme ist mir lieber als Kälte, auch wenn sie anstrengend ist. Schwitzen finde ich schöner als Heizöl kaufen, im Ernst. Ich mache sowieso immer das Gleiche, auch ohne Hitze. Morgens stehe ich auf. Meistens zwischen 8 und 10. Dann mache ich Kaffee. Wenn ich die zweite Tasse trinke, rauche ich die erste Zigarette. Nach einer Weile, oft beim Dritten, esse ich eine Kleinigkeit. Nicht viel. Reste vom Vortag, oder Dinge die rumliegen. Morgens bin ich faul und habe wenig Hunger. Wenn ich nichts zu schreiben habe, sitze ich rum und sehr mir die Wände an. Selten lese ich Zeitung und wenn nur den Feuilleton. Doch oft ist der mir zu gestelzt, kommt mir zu elitär daher. Alle Welt will Intelligenzler sein, schlau daherreden und die Wahrheit, eine frohe Botschaft verkünden. Mich nervt das total. Nicht, weil ich ein divenhafter Narziss bin und mich mit dem Gegenteil wichtig machen will, sondern, weil es mich schlicht fürchterlich langweilt. Den Menschen fällt nichts mehr ein.

Wenn ich nicht lese und mir die Wände ansehe, kann es passieren, dass mir nach Musik ist. Das kann dann alles Mögliche sein, von Beethoven, bis hin zu lateinamerikanischer Folklore. Aber nicht immer. Manchmal höre ich auch Keine. Hin und wieder fahre ich am Morgen los und hole ein. Ich hab das ganz gerne, besonders in meinem kleinen spanischen Dorf. Aber auch das nicht jeden Tag. Das wäre ja Routine. Und genau die vertrage ich nicht. Mehr noch: Sie killt mich. Jeden Morgen zur gleichen Zeit aufstehen, würde mich umbringen. Ich brauche Lebendigkeit, um mich wie ein Mensch und nicht wie ein Roboter, ein Industrie und Konsumsklave zu fühlen. Hin und wieder geht mir der Wein aus; dann hole ich Neuen. Mit Wein soll man keine Späße treiben.

Manchmal, so zwischen der ersten Zigarette und der Mittagszeit, habe ich gute Ideen. Zu allem Möglichen. Oft auch zum Schreiben. Dann mache ich mir Notizen, damit nichts verloren geht. Früher dachte ich lange, dass ich mir alles Mögliche merken könnte. Das war ein großer Irrtum. Ich weiß nicht, wie viele gute Ideen mir durch die Finger geronnen sind. Viele. Unzählige, ich bin mir sicher. Aber ich bin nicht traurig deswegen. Ich stelle mir einfach vor, dass sie wiederkommen werden. Wenn es Zeit für sie ist. Nicht jeder, nicht alles ist sofort dran. Manchmal muss man warten. Die Dinge passieren immer zur richtigen Zeit. Doch glauben tut das niemand. Alle sind gehetzt, haben die lange Liste des Brauchens, Wollens und Müssens im Gepäck. Ich jedoch glaube an das große Ganze, im Ernst. Glaubt es, oder lasst es sein. Ist mir egal. Ich mein, wenn alles einen Sinn hat, dann geht es nicht anders: Dann muss es so sein. Wenn alles sinnlos wäre, wirklich alles was wir so machen, dann wäre das ein ziemlicher Zufall, dass all die Dinge, das wir und all das da sind. Die Welt ein Zufall? Natur, die Bäume, Blumen und Tiere? Menschen? Alles sinnlos? Reiner Zufall? So ein Quatsch. Gibt genug intellektuelle Spinner, die das angebliche Nichts, die große Leere bewiesen haben. Ich jedenfalls bin ein Kind der Liebe und kein Zufall. Mich hat man ganz bewusst gemacht. Und wenn die ganze Welt glaubt, alles sei Zweck und sinnlos: Ich habe einen. Doch viele glauben mir auch das nicht. Manchen ist einfach nicht beizukommen. Aber das macht nichts: Man kann nicht allen helfen. Ich verstehe das. Außerdem helfe ich nicht so gerne, weil die meisten gar nicht wirklich Hilfe haben wollen, etwas an ihrem Zustand ändern wollen, sondern sich nur beschweren, ihre Unzufriedenheit in die Welt hinauspinkeln, als müssten sie jeden Strauch, jeden Baum mit ihrem Kummer düngen. Aber ändern, wollen sie trotzdem nichts. Deswegen helfe ich nur noch sehr selten; es ist nicht meine Stärke.

Wenn ich darüber nachdenke, würde ich sagen, dass ich gerne rumsitze. Darin bin ich ziemlich gut. Manchmal sitze ich auch draußen. An heißen Tagen aber erst abends. So wie heute. Eigentlich mache ich wenig, wenn ich mal vom Schreiben und Denken und Essen und Trinken und Rauchen absehe. Manches mache ich gleichzeitig. Denken, schreiben, rauchen und trinken zum Beispiel. Oder nur trinken und rauchen, ganz ohne denken. Das variiert. Wein trinke ich nicht vor 12 Uhr mittags. Nie. Das sollte man nicht machen. Alles zur richtigen Zeit. Essen, einmal am Tag. Mir langt das.

Gestern ging ich einkaufen. Brot, etwas Butter, Räucherlachs und Weißwein. Die Menschen vor den Kassen waren wie leblose Vogelscheuchen. Ich hoffte ich nicht. Sie sahen stumpf geradeaus. Kein Leben in den Augen. Schlange stehen, und warten. „Ja, genau, mit Karte.“ Nummer eintippen. Einpacken. Lächeln. Bonne journée. Merci. Gracias. Gute Nacht. Alles mechanisch, völlig ferngesteuert. Dann raus in die sengende Sonne. Hängende Schultern, kein Temperament, kein Feuer. Ich ging heim, schloss die abgedunkelte Wohnung auf und holte eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank. Dann kam Carlos zu Besuch.

In Toulouse rauche ich nicht in der Wohnung. Guilia mag das nicht. Ich verstehe das. Kalter Rauch ist scheußlich. Egal ob in Hamburg, oder Toulouse. Nur auf Mallorca rauche ich im Haus, da verläuft es sich irgendwie. Außerdem ist das Haus sehr alt und riecht. Nicht wie alter Mensch und so, aber wenn ein Haus den Menschen schon über 1000 Jahre eine Heimat gibt, dann atmen die Mauern das ein und verändern sich mit. Rauch passt gut dazu, am besten aus dem Kalumet oder so.

Ich war auf der Straße, sah mir die Menschen an, wie sie ziellos vorbeitrieben und setzte mich auf einen Begrenzungsstein. Eine Zigarette ansteckend, dachte ich an Gestern und Morgen. Und wieder von vorne. Ich hatte ungefähr die Hälfte der Zigarette weg, als ich ihn die Straße runterkommen sah. Er sah müde aus.

„Hola Hermano, que tal?“ Wir umarmten uns.

„Ich bin müde, war eine ziemlich anstrengende Woche. Heulen und Zähneklappern: Alles dabei, vom bunten Teller.“

Ich reichte ihm eine Zigarette. Er lächelte, ließ sich Feuer geben und nahm glücklich und dankbar den ersten Zug. Wir quatschten über dies und Jenes. Erzählten uns unsere Geschichten. Lachten, zweifelten und schüttelten die Köpfe. Leben eben. Die zweite Zigarette nahmen wir im Innenhof, dann gingen wir rein. Wir öffneten ein paar Bier, redeten, tranken und rauchten. Es wurde ein schöner Abend. Mit der zweiten Flasche gingen wir wieder raus zum Rauchen. Irgendwann musste er los und ich ging schlafen.

Am nächsten Morgen ging es von vorne los. Aufstehen, schon wieder: Das nahm gar kein Ende. Wieder zwischen 8 und 10. Ich machte Kaffee. Ein Ritual. Während ich den Ersten trank, sah ich auf meine Wetter-App. Sonne, Sonne nichts als Sonne. Ich wollte mir ein wenig Abwechslung verschaffen und stöhnte herum, als würde mich das bewegen. Manchmal muss man unzufrieden sein; man kann nicht ständig glücklich und zufrieden herumlachen. Das geht nicht. Niemand darf das. Ich trank die zweite Tasse und rauchte die erste Zigarette. Irgendwann aß ich eine trockene Scheibe Brot, fischte eine Kartoffelleiche aus dem Suppentopf und trank einen Schluck Olivenöl. Frühstück. Ich horchte in mich rein: Einsame Stille. Da war nichts. Rein gar nichts. Da war nicht mal ein Leuchten, kein Funken. Ich schenkte Café nach und sah mir die gegenüberliegende Wand an. Die Zeitung ließ ich ungelesen auf dem Tisch liegen. Ich hörte leichte Jazz-Musik, dachte über meine Geschichte von diesem Wochenende nach. Ein paar Ideen, sogar Stichworte hatte ich mir notiert; doch die machten nichts mit mir, lösten keinen Tsunami aus, triggerten nichts. Ich entschloss mich was anderes zu machen. Ich wollte meine „Ballade d’Amour cosmique“ ins Italienische übersetzen. Routinearbeiten halfen mir den Kopf zu entspannen und gelassen zu bleiben. Kurz nach 12 Uhr Mittag schenkte ich mir Weißwein ein. Sofort lief es besser. Sogar erste Ideen blitzen erleichtert auf. Ich nahm einen weiteren Schluck.

Ich dachte über die aktuellen Geschichten nach, die verschiedenen Stränge, die wie bunte Linien in meinem Gedächtnispalast leuchteten. Ich dachte an den Profikiller, die Krokodilgeschichte, die Erzählung vom Präsidenten des Universums und all die komischen anderen Sachen, die noch nicht ihren Weg raus ans Licht gefunden haben. Ich war gerade ganz vertieft, als Guilia mich daran erinnerte, dass wir nach Saint Girons wollten. Plötzlich ging alles ganz schnell: Wir schmissen uns in unsere Klamotten und sprangen ins Auto. Ab ging es Richtung Pyrenäen. Wenn man mit einer smarten Frau zusammenlebt, muss man ein paar wichtige Dinge beachten: Sie braucht Bewegung, Abwechslung und Wein. Oder Kinder. Das ist eine universelle Regel. Ich achte darauf, dass sie Ersteres reichlich bekommt. Dann schnurrt sie zufrieden, ist liebevoll, macht Café und bügelt meine Hemden. Ist man nachlässig fliegt schnell ein Drachen ums Haus.

Nach einer Weile kamen wir aus Toulouse raus und fuhren auf der A64 weiter. Links und rechts das Gleiche: Wiesen und Bäume, soweit das Auge reichte. Ein paar kleine Orte sprenkelten die Landschaft grau und dunkel. Menschen erschaffen selten Erhellendes. Bäume, Wiesen und Sonnenblumenfelder. Und wieder von vorne. Eigentlich recht langweilig, aber eine schöne Abwechslung, wenn man wochenlang in der Stadt rumsitzt und wartet das die Zeit rumgeht. Nachdem wir uns verfahren hatten, blieben wir dem rechten Weg bis zum Ende treu. (Schöner Satz, oder?) Ich sah mich um. Was war denn das?

Grauer Himmel, niedrige Temperaturen, sowie das neblige Mittelgebirge, ließ uns eher an Nidda-Oberschmitten, Eifel oder Sächsische Schweiz denken, als an Südfrankreich. Verlassene Höfe en Masse. Stillgelegte Tankstellen, Dutzende. Offensichtlich wurde weniger getankt. Oder die Menschen blieben zum Trinken zuhause. Graue, triste und sehr lieblos hingestellte hässliche Hutzelhäuser, überall. Man hatte sie mit Spritzputz verschmiert. Sie ließen einen an Plattenbau denken. Grau, grau und nochmal grau. Wie der Himmel. Keine Farben, nirgendwo. Ein paar Wohnwagen standen herum. Ein Zirkus fuhr seine Tiger spazieren, schrie die Einzigartigkeit mit Lautsprechern in die Welt. Da hatten sie wohl recht: Eine Großkatze einzusperren und dann im Käfig herumzufahren, kann man leicht einzigartige Perversion nennen. Ein paar dunkle Kneipen gaben den Profis ein Zuhause. Gebeugte Menschen rannten auf Gehsteigen herum. Ihr Aussehen stand im direkten Wettbewerb mit den Häusern in denen sie wohnten. Nicht das ich mich selber attraktiv finde, bestimmt nicht: Aber lächeln hilft, egal wie ich mich anziehe, egal wie ich ausschaue.

Wir parkten, sahen an uns herunter. Ich hatte kurze Hosen an, steckte Barfuß in meinen Latschen und hatte ein dünnes Hemd an. Typisch Stadtmenschen, dachte ich. Wir fahren raus aufs Land und sind vorbereitet wie die Frisöre. Wir fuhren ein wenig  herum, bis wir uns entschieden etwas zu essen. Aus einer ehemaligen stolzen Tankstelle, hatten sie eine traurige Boulangerie gebaut, vor der ein Breulerwagen stand. Brathähnchen hatte ich schon ewig nicht mehr gegessen. Schnell hatten wir den toten Vogel, zusammen mit ein paar Bratkartoffeln bezahlt und fuhren aus dem Ort raus, in der Hoffnung noch ein sonniges Plätzchen zu finden. Irgendwann saßen wir auf einer kleinen Anhöhe, der frische Wind flatterte um unsere dünne Kleidung herum, während wir gierig die Hühnerknochen abnagten. Das Hühnchen entschädigte uns ein wenig; es war lecker und unter freiem Himmel hatte ich lange keines mehr gegessen. Nachdem wir uns die Finger abgeleckt hatten fuhren wir wieder zurück, dem warmen Toulouse entgegen. Zwanzig Kilometer vor der Stadt hatten wir wieder Sonne und sieben Grad mehr, endlich. Irgendwie tat die Abwechslung gut. Als wir zuhause waren fielen wir übereinander her und schliefen nach einem intensiven Blitzkrieg schnell ein. Siesta auf Südfranzösisch. Nach einer Weile wurde ich wieder wach und dachte an meine Sonntagsgeschichte. Ich schenkte mir ein Glas Wein ein. Er war lecker, fruchtig und etwas mineralisch. Frisch. Ein guter Wein. Ich freute mich, startete meinen Laptop und machte leichte Jazzmusik an. Kaum war das Gerät einsatzbereit, floss es schon aus den Fingern, hinein in die Tasten, hinaus in die Welt:

„Vorgestern ging es noch; den Tag danach schon nicht mehr. Und heute? Da drückt die Freude mir den Kummer aus den Poren, als wenn es morgen kein heute geben würde. Alles stöhnt. Menschen lamentieren. Die Monotonie, das ewige Hamsterrad lässt sie verrückt werden. Freude und Glück kommen immer zu spät, gehen wie Gepäckstücke verloren. Verabschiedungen bleiben aus, werden von der Tristesse verscheucht, als wären sie lästiges Laub. Veränderungen stören. Ständig. Mancher bewahrt sich in der Gleichförmigkeit den letzten Stil; andere entgleisen stattdessen völlig und lassen die konsumgeblendeten Augen erblinden. Der Sommer gleicht einem Traum, der uns zeigt wie schön Sonne und Freude das Leben leuchten lassen. Glühende Leidenschaft kriecht das Rückgrat hoch; unser Kopf, ein glühendes Haus der Lüste, der Orgien.

Sommer ist herrlich; Wein, Lust und Wärme ist einfach schön, auch wenn sie auf Dauer anstrengend sind. Schwitzen finde ich schöner als Langeweile, im Ernst. Alles ist zwar immer irgendwie ähnlich, fast das Gleiche, aber dennoch schön und lebenswert. Morgens stehe ich fröhlich auf. Dann mache ich mir leckeren Kaffee. Wenn ich die zweite Tasse trinke, rauche ich eine Zigarette. Nach einer Weile, oft beim Dritten, esse ich irgendetwas Leckeres vom Vortag. Morgens bin ich zwar manchmal faul und habe wenig Hunger, aber ich habe oft gute Ideen und viel zu schreiben. Nur selten sitze ich herum und sehe mir die Wände an. Zum Zeitunglesen komme ich nicht oft und wenn, dann lese ich den Feuilleton. Der interessiert mich. Oft gibt es gute Buchempfehlungen. Den Menschen fällt immer etwas ein.

Wenn ich weder schreibe noch lese, kann es passieren, dass ich Musik höre. Das kann alles Mögliche sein, von Mozart, bis Goran Bregovic. Aber nicht jeden Tag. Manchmal höre ich auch Keine. Einholen tue ich sehr gerne. Man sieht andere Menschen, sieht die Welt, bekommt Anregungen. Aber nur hin und wieder. Sonst wäre das ja ein Ritual. Und genau die vertrage ich nicht immer. Mehr noch: Man muss sie vorsichtig dosieren. Jeden Morgen zu einer ähnlichen Zeit aufstehen ist besser, als zur Gleichen. Wein und Lebendigkeit, macht das Leben bunt. Hin und wieder geht er mir aus; dann hole ich wieder Frischen. Wein soll man zu schätzen wissen.

Wenn ich darüber nachdenke, würde ich sagen, dass ich sehr gerne lebe. Darin bin ich gut. Ich finde, wenn man ein Leben hat, sollte man auch gut im leben sein. Alles andere wäre ja unsinnig, wäre ungesund.“