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Sie tat es aus Liebe – Odyssee 2021 CW08

D saß mit verschränkten Armen und Beinen auf einem Sofa. Draußen dröhnte Verkehr und Grundrauschen geschäftiger Menschen, während er nachdenklich aus den großen Fenstern des ersten Stocks sah und dem beginnenden Frühling in den offenen Schoß blickte.

D’s Freundin hatte ihre beste Freundin Eva besucht, weil diese von ihrem Partner Mattieu in den kommenden Monaten zum Altar geführt werden sollte und D gesellte sich am Nachmittag dazu.

Eigentlich hatte er vor, zu Maxxess zu fahren, um ein paar Dinge für sein Motorrad zu besorgen, musste jedoch nach wenigen unmotivierten Schritten in seiner Wohnung feststellen, dass er heute offenkundig sogar zum Atmen zu faul zu sein schien. So lud ihn seine Freundin ein, zum Café dazuzukommen.

Mit wachsender Freude, dachte er an den Café, während er durch die Sonne von Toulouse flanierte und sich kurzfristig entschied, das Angebot anzunehmen; eine kurze digitale Nachricht an seine Freundin gab ihr letzte Möglichkeiten zu intervenieren, um das Angebot zurückzuziehen; da dies ausblieb, bog D am Place de la Daurade rechts ab und schwebte dem verlockenden Angebot zielstrebig entgegen.

Schon beim Eintreten, bemerkte D, dass die Damen bereits einige Gläser Champagner intus hatten. Es lag nicht nur allein am schrillen Lachen von Eva, sondern vielmehr an den Themen, die anscheinend schon länger halbseiden zu sein schienen, aber noch keine Grenze des Geschmacks überschritten hatten, dass D sich Sorgen hätte machen müssen.

Es war vielmehr die Wortwahl, die eine unübersehbare beginnende Schlüpfrigkeit unterstrich, die D grundsätzlich begrüßte, besonders an Samstagnachmittagen.

Eva war so etwas wie der Prototyp der idealen Fransösin: Schön und gebildet, noch dazu mit Eigenschaften wie Geschmack, Humor und Empathie hübsch verziert, dass D gerne und völlig frei von Ironie von einem wunderbaren Qualitätsprodukt der fünften Republik sprach.

Auch auf D’s Freundin traf das Meiste davon zu, wenngleich man bei ihr vergeblich die selbe elegant überdeckte Arroganz suchte, mit der ihre Freundin Eva ihren schön hingewachsen Wirtskörper durch die Welt schob.

Schon vor vielen Jahrzehnte entdeckte D diese schwer einzusortierende Eigenschaft an sich, fremde Frauen immer irgendwie ein wenig anziehender zu finden, als seine Partnerin.

Es musste etwas mit gestohlenen Äpfeln zu tun haben, die immer besser schmecken, als die rechtmäßig erworbenen. So fiel es D also an diesem Samstag nachmittag, nach dem Genuss von mehreren Gläsern Champagner zum so und so vielten Mal vor die Füße, dass er Eva mit den gleichen Blicken taxierte, wie die einladende Fleischtheke beim Schlachter nebenan, wo er mit geübtem Blick ein vorzüglich aussehendes Entrécôte erspähte, dass ihm blitzartig der Zahn tropfte.

Und Beine hatte sie!

D musste oft aus dem Fenster sehen, um sich nicht von dieser graziösen Strumpfhose und den Stilettos verzaubern zu lassen; noch dazu hatte sie mit ihren 32 Jahren auch noch ein Alter, dass ihrer Natur alle Möglichkeiten gab, das pulsierende Leben hinter jedem Quadratzentimeter Haut zu finden, die sich nur mit Mühe im Korsett aus Anstand, guter Kinderstube und großbürgerlicher Erziehung im Zaume halten ließ, das D wie zur eigenen Beruhigung seine Hand auf den Oberschenkel seiner Freundin legte, deren Beine in Form, Länge und Farbe in keinster Weise hinter Evas hinterherhinkten.

Sie waren lediglich schlichter hinter Jeansstoff verpackt, was auch hübsch anzusehen war, jedoch nicht diese archaische Wirkung auf D ausübte, wie Nylons in hohen Hacken.

Du meine Güte, hat die Natur dich einfach gestrickt!

dachte D, verzweifelte jedoch nicht allzu lange, weil er der ausgelassenen Unterhaltung der zwei Ladies lauschte, die gerade das nächste Level an Dynamik und Lebensfreude erreicht hatte, wie D unschwer hörte, als weitere Lachkrämpfe der zwei ausgelassen Champagner trinkenden Damen wie Tsunamis über ihn zusammenbrachen, dass er sich immer wieder mal verstohlen umblickte, um breiter und breiter lächelnd nach versteckten Kameras zu suchen.

Eva: (laut lachend, fast ein wenig schmutzig)…wenn er dann fertig ist, sieht er mich immer an, als wenn er unsicher ist, ob er sich Bedanken oder um Entschuldigung bitten soll, weil er nicht weiß, ob er gut genug war – dass kannst du dir nicht vorstellen! Er trägt mich auf Händen; noch nie hab ich einen solch verliebten Mann gesehen; dass Mattieu dann mit dem Antrag um die Ecke kommen würde war mir klar – und bei ihm nahm ich mir diesmal vor, ja zu sagen!

Don’s Freundin: Er ist wirklich ein seltenes Exemplar, Eva, das musst du zugeben; sowas von höflich, nett und zuvorkommend; ein wahrer Gentleman, ganz anders als meiner hier, nicht wahr, Don? (lautes Lachen der zwei Frauen)

Don: (schmunzelte in seinen sieben Tage Bart und nahm sich vor, ein wenig zu zündeln)……wenn Mattieu noch gut kochen und aufräumen kann und noch dazu handwerklich begabt ist, wie du sagst, Eva, dann hast du doch deinen Traum-Prinzen gefunden, der euren zukünftigen Kombi zuverlässig und unfallfrei von der Schule zur Arbeit und wieder nachhause zurückfährt – ich gratuliere – und wieder hast du alles richtig gemacht! (ein wenig sarkastisch und bittersüß ließ D seine Worte einsickern)

Eva: Im Ernst Don: Mattieu ist der perfekte Ehemann! Gut aussehend, aber nicht zu gut, sportlicher Körper, volles Haar, braune liebevolle Augen und ein Maß an Freundlichkeit und Zuverlässigkeit, wie sie nur ein 40 Jähriger haben kann!

DF: Bleib aber lieb zu ihm Eva, okay? Der liebt dich wirklich, behandle ihn gut, versprichst du mir das? Bei Mattieu kannst du dir alles erlauben, du hast das schon ganz richtig bemerkt: Er trägt dich auf Händen; alles wird er für dich machen und noch mehr…

D: (D bemerkte, dass der Alkohol bereits ein gerüttet Maß an Feinsinnigkeit bei den Damen übertünchte)…..du sag mal Eva, für mich klingt das aber eher so wie auf einem Pferdemarkt; hast du denn auch sein Gebiss ausreichend begutachtet? Er ist also zur Zucht geeignet, offensichtlich sogar zu deiner Eigenen?

Eva:…..ich habe mit Feude JA gesagt!

Don: Das habe ich mir bereits gedacht, Eva – aber viel wichtiger ist doch, dass du ihn liebst – den Eindruck habe ich bisher nicht; so wie du über ihn redest klingt es so, als wenn du über einen netten Freund oder einen Kollegen sprichst und nicht über deinen zukünftigen Gemahl!

Das hatte gesessen; D wollte eine Reaktion auslösen, vielleicht klappte es so, dacht er sich; während er sprach hatte seine Freundin nach seiner Hand gegriffen, die immer noch auf ihrem Schenkel lag und hatte angefangen sie a-zyklisch immer wieder leicht zu drücken. Als er dann auf Liebe zu sprechen kam, fuhr sie erschrocken zusammen.

Warum wusste D an diesem Nachmittag noch nicht. War es seine forsche Art, mit der er Eva offen attackierte? Oder war es die wachsende Furcht vor Evas Antwort, die sich immer weiter ausbreitete?

D wusste es nicht.

Eva: Wie jetzt, Liebe? Von was redest du denn da, Don? Natürlich liebe ich ihn nicht! Darum geht es doch gar nicht; ich will Kinder haben, das geht nun einmal nicht ohne Kerl; so etwas wie Kinder hält doch keine Beziehung aus, schau dich doch mal um; wie naiv bist du denn? Wir haben zehn gute Jahre, dann sind die Kinder schon ein paar Jahre in der Schule und dann trenne ich mich sowieso von ihm; ich habe doch keine Lust, mein Leben mit ihm zu verbringen, wie komme ich dazu?

D: Aber…….(sprachlos blickt D mit offenem Mund in die lodernen Augen Evas)

Eva:…nix aber, lieber Don! Aus welchem Märchenland kommst du denn geritten? Wir leben im Jahr 2021 und nicht 1821, schon bemerkt? Heute kann Frau alles machen, sein und haben, so wie die Männer! Ich kann doch mit Kindern keinen hübschen Kerl zuhause gebrauchen, der womöglich fremdgeht, gar fremdvögelt, wie komme ich dazu?

Deswegen darf er auch nicht zu gutaussehend sein, so dass sich alle Frauen nach ihm umdrehen, um Gottes Willen, Don – Kinder sind harte Arbeit, da musst du dich aufeinander verlassen können, sonst hast du schnell Probleme – und die wollen wir ja wohl alle nicht, oder?

Ich will einen gut aussehenden, zuverlässigen, freundlichen Kombifahrer, der mich auf Händen trägt, so lange ich Lust darauf habe und wenn nicht, dann geht das Leben ohne ihn weiter – ist doch das Normalste von der Welt…!

D: Ach so ist das – so hatte ich das noch gar nicht gesehen; wann wollt ihr heiraten?

Eva: Im Juli. Wir suchen zur Zeit nach einem geeigneten Termin, um im Anschluss unsre Flitterwochen zu machen……mir ist eigentlich egal wo, Hautsache Sonne und Strand!

D: Na, da bin ich mir sicher, dass ihr was Passendes findet…Mist ich erinnere mich gerade daran, dass ich doch glatt vergessen habe, ein paar Besorgungen zu machen…

Eva: Du musst los, Don? Na dann können wir uns ja in Ruhe über dich herziehen! (laut lachende Frauen)

D: Da bin ich mir sicher, Eva…

D’s Freundin lässt seine Hand nur widerwillig los und ist sich nicht sicher, ob sie noch länger bleiben soll. Selbst die Champagner-Wirkung hatte etwas an Leichtigkeit und Ausgelassenheit eingebüßt. Schon stand D mitten im Wohnzimmer und machte Anstalten sich zu verabschieden. Mit Sicherheit würde seine Freundin aus Anstand noch bleiben.

D: Ich würde wirklich noch gerne bleiben, aber wenn ich nicht vor 17:30 im Supermarkt bin, lassen die mich nicht mehr rein…ihr kennt ja diese blöde 18:00 Uhr Regelung, die wir immer noch in La France genießen dürfen…bis später, Schatz – bis zum nächsten Mal Eva und noch einmal: Herzlichen Glückwunsch…

Crispy Hot Pussy – Odyssee 2020 CW08

Ich liebe Fisch. Eigentlich bei allem, was aus dem Meer kommt, können sich Gaumen und vor Allem meine Zunge nur schwer in Geduld üben. Quasi mit offenen Sinnen werden all die Früchtchen empfangen, die sich ihnen nähern. Nicht immer war das so; als ich meine ersten Kostproben machte, ich glaube ich war so zwischen 16 und 19 oder so, habe ich sie zum allerersten Mal probiert. Doch Geschmack, Textur und Duft waren so exotisch, dass ich erschrocken zurückprallte und nur mit Mühe gegen meine Besinnungslosigkeit ankämpfte.

Was für ein vorzüglicher Planet war das doch, der einem Mofa’s, Bier, Wein, Zigaretten, Mädchen, Colt Seavers, Miami Vice“ und diese herrlichen Früchte schenkte, dachte ich mir damals.

Gestern brachen diese alten Erinnerungen, wie ein „Blitz-Vulkanausbruch“ vor mir aus, als ich mit meinem alten Kumpel und Steuerberater zum Dinner verabredet war. Er hatte eine bekannte Adresse im Hamburger Norden, genauer gesagt, im Speckgürtel, vorgeschlagen, die für ihre anständige Küche und Lokalfolklore bekannt ist.

Für meine Verhältnisse kam ich ziemlich pünktlich an und parkte ein wenig im Abseits, um mir die gut genährte Gegend anzuschauen. Selbst im Dunkeln erkannt man, dass es hier allen seit Jahrzehnten prächtig ging. Nur selten ging man hier essen, weil man Hunger hat. Eine bessere Location konnte man mit so einem Restaurant gar nicht finden, dachte ich mir, als ich den Laden betrat und mich umsah, wer hier so alles speiste, mampfte und sprühregenartig lachte.

Mein Kumpel wartete noch nicht allzu lange, hatte jedoch schon seinen Aperitif vor sich stehen, an dem er wohlerzogen langsam und vorsichtig saugte – ein „Schwarzer Hugo“ mit Strohhalm schien sein Interesse geweckt zu haben. Nachdem die äußerst sympathische, weibliche Bedienung so freundlich war, mich darüber aufzuklären, dass ein „Apéro-Rhabarber-Spritz“ doch eher was für Mädchen ist, nahm ich all meinen Mut zusammen, um sie zu fragen, ob sie bei mir heute eine Ausnahme machen könnte, was sie mit fröhlichem Lachen herzlichst beantwortete.

Wir plauderten über damals, gestern, heute und morgen und kamen nur mühsam mit der Essenauswahl voran; korrekterweise muss ich sagen, dass ich der Jenige war, der sich schwer tat. Beim Blättern durch die Karte merkte ich, dass ich noch unentschlossen war, ob ich auf Fisch oder Fleisch gehen sollte, entschied mich dann doch aber überraschend schnell für Ersteres, da ich mit Anfang zwanzig doch endlich ein großer Freund von meinen schlüpfrigen Meeresfreunden wurde.

Zufrieden las ich die Karte und fing zu lächeln an, als ich „Sexy Freak Roll“ las. Zuerst blickte ich ein wenig abwesend in die unendlichen Weiten des Weltraums, während ich mir versuchte vorzustellen, um was es sich da wohl alles handeln könnte, bis ich „Shaved Tuna“ las, den man offensichtlich mit Gurke, Garnelen und Avocado veredelt hatte. Als dann „Love Roll“ und „Surf and Turf“ folgten, blieb meine Überraschung schon wieder in ihrem Bau liegen, bis ich dann auf drei magische Worte prallte, die mitnichten meiner Fantasie entsprangen, sondern mir stattdessen wahrhaftig mit gespreizten Beinen ins Gesicht sprangen, wenngleich, dass muss hier gleich präventiv vorab ergänzen, es sich in diesem speziellen Fall um „Acht“ Beine handelte:

Crispy Hot Pussy,

stand da mit obszön kurvigen Buchstaben, was mich blitzartig auf Drehzahl brachte. Ertappt sah ich mich vorsichtig um und las noch mal. Keine Änderung, es stand immer noch da. Ich lockerte meinen nicht vorhandenen Schlips, atmete tief durch, nahm einen tiefen Schluck von meinem Mädchen, Entschuldigung ich meine von meinem Mädchengetränk und las mit meinen zwei sittsamen Beinen fest auf der Erde erneut die einzelnen Buchstaben, die immer noch nichts anderes ergaben.

Es bedurfte umgehend einer Klärung. Ungeduldig winkte ich die sympathische, weibliche, vielleicht vierzigjährige Bedienung heran, die ich mit zitterndem auf die Karte zeigenden Finger, ungeduldig mit den aus mir heraussprudelnden Worten Empfang:

„Crispy Hot Pussy? Im Ernst…?“

„Unsere Küche mag diesen Wortwitz sehr……“

„Ich meine, ist schon verstanden, „Octopuss“ und so, aber wenn ich ehrlich bin, habe ich jetzt dann doch als erstes an etwas anderes gedacht, was natürlich der gewaltige kapellmeisterartige James-Last-eske Riesenspaß ist, schon kapiert, aber – im Ernst?“ Nur mit Mühe kriegte ich mich ein, während die arme Bedienung mit hoch erhobenen Händen ihrer Verzweiflung Ausdruck verleihte, wie eng sie sich doch mit dieser Form von Humor verbandelt fühlte.

Ich drückte im Geiste den humorigen Spaßvögeln aus der Küche alle Daumen, dass alle Gäste ähnlich meinungsfreiheitlich, locker, knusper-knabber-knackig-frisch und liberal geben, wie mein Kumpel und ich, ließ die drei Worte noch eine Weile auf der Zunge zergehen, sowie alle Bilder aus meinem Gedächtnispalast, die sich mir mit unerwarteter Fülle aufdrängten, bis ich mit seeligem Lächeln wieder in den seidigen Schoß des unendlich schönen Kosmos schaute und zum aberhunderdsten Mal bekenne musste – la vie es belle!

 

Paradies

Ich habe letzte Nacht gut geschlafen. Als ich am Morgen aber wach wurde sprang mir dies eine Wort ins Gesicht. Sperrig stand es in meinem Kopf rum, blockierte den ganzen Palast. Ich musste es irgendwie raus bekommen. Ich fing einfach an zu tippen. Aber irgendwas blockierte mich immer noch. Keine Ahnung was das war. Ich ging eine Runde spazieren. Und oh Wunder, wenn ich mich bewege, kommt Leben in mein Leben. Gerade setzte ich mich hin, da fing es auch schon an zu laufen.

Ich habe viel darüber gelesen. Man kann jeden fragen. Keiner wird etwas anderes sagen, egal ob Kosmopolit, Indianer, Wikinger, Römer oder Sumerer: Alle suchen danach, den brennenden Wunsch wie einen leuchtenden Schild hochhaltend, dass sie es eines Tages finden würden. Das ganze Leben drehte sich eigentlich nur um diese eine Hoffnung: Dass es irgendwann irgendwo besser sein wird. Und schöner. Es ist die Suche, das Versprechen, irgendwann an einen Ort zu gelangen, der oft Garten Eden genannt wird. Manchmal auch Himmel. Es gibt ziemlich viele Namen und Begriffe für das Paradies. Gemein aber gilt, dass dort Friede herrscht und dass es dort ein angenehmes Klima gibt. Nicht zu kalt und nicht zu warm. Das klingt irgendwie nach 25 bis 30 Grad Celsius, meine Ideal-Wohlfühltemperatur. Das Paradies ist der Ort, wo sie alle hinwollen. Egal, ob nach einem arbeitsreichen, mühseligen Leben voller Entsagung, oder nach einem Leben mit Völlerei und Luxus, wo Leid und Not den größtmöglichen Abstand zum Selbigen hatten: Alle wollen es. Alle suchen und warten darauf.

Ich war schon mal da. Vier Wochen lang. Und ich war wirklich sehr überrascht. Aber nicht so, wie ich es anfangs vermutet hatte. Das Paradies ist wirklich so, wie ich es mir dachte. Nur noch schöner. Das Paradies ist genauso, wie es in unserer Vorstellung bewahrt wird. Nur noch besser. Es herrscht tatsächlich Frieden. Das alleine ist schon schwer vorstellbar, mit all den Menschen dort. Aber damit  nicht genug: Das Klima ist wirklich fantastisch. Es ist perfekt. Die Sonne scheint, ein laues Lüftchen geht und irgendwie wachsen die Pflanzen wunderbar, obwohl ich sie in den vier Wochen nicht gegossen habe. Geregnet hatte es aber auch nicht. Das geht ja nicht. Regen ist im Paradies nicht vorgesehen. Die Natur wächst trotzdem. Und die Vegetation ist wirklich ein Traum. Alles im Paradies ist schön und harmonisch, absolut perfekt. Die Tiere und Menschen leben in Harmonie und lassen einander in Frieden. Industrielle Schlachtanlagen stehen nicht im Paradies herum, obwohl da viel gegessen wird. Wie die das geregelt haben weiß ich noch nicht. Vielleicht finde ich es noch heraus. Arbeiten generell muss man nicht. Kann man aber, wenn man möchte. Im Paradies denkt man allerdings nicht so oft ans arbeiten. Ich war so mitgenommen, von all der Schönheit und Perfektion, das meine Stimme rau vor Rührung wurde.  

Irgendwann fiel mir auf, dass bei all den Beschreibungen vom Paradies hauptsächlich die natürlichen Dinge im Vordergrund stehen. Also Pflanzen, Tiere, Menschen und Sonne, Wasser und Luft. Tolles Klima und ständig gab es köstliche Speisen, mit ebensolch köstlichen Weinen. Alle Menschen waren hilfsbereit, freundlich und nett. Im Paradies ging es mir unbeschreiblich gut. Ich würde sogar sagen, dass es mir besser ging als jemals zuvor. Ich glaube, es war das erste Mal, dass nichts fehlte. Das Paradies hatte seinem Namen alle Ehre gemacht. Ich war ergriffen davon, wie paradiesisch das Paradies war. Noch nie fühlte ich mich so behaglich und pudelwohl wie dort. Es war wirklich unglaublich wie sehr es mein Leben verändert hat, seit ich dagewesen bin.

In der ersten Woche war es einfach unbeschreiblich. Schöne Frauen gab es auch. Logisch, im Paradies fehlt nichts. Ob es Jungfrauen waren, wage ich zu bezweifeln. Trotzdem hatten sie etwas frisches und junges an sich. Sie trugen diese unbeschädigte Lebens-Freude in sich. Weil sie so waren, nahm ich das mit der Jungfräulichkeit nicht mehr so eng. Ich finde sowieso, dass man das ganze Leben nicht so ernst nehmen sollte. Jedenfalls dachte ich das damals. Sogar heute denke ich es noch. Wir sparen uns doch nicht für den besonderen Tag auf. Wir verschwenden doch hoffentlich unsere Jugend, unser Talent wo wir nur können. Jedenfalls hoffe ich, dass es mehr Menschen als ich so sehen.

Es war einfach wunderschön. In der zweiten Woche war es genauso. Alles war wie in einem unglaublich schönen Traum. Nur das er wahr war. Jeder Tag war so perfekt, so herrlich, dass mir die Superlative genauso schnell ausgingen, wie der Weißwein im Sommer. Doch dann passierte etwas sehr Merkwürdiges:

In der dritten Woche fing ich an mich daran zu gewöhnen. Wirklich. Ich fing an mich ans Paradies zu gewöhnen. Es verblasste. Ich wollte es nicht glauben. Da war ich nun am Ziel meiner Träume und fing an mich an diesen wunderschönen Ort zu gewöhnen. Gewöhnung ist für mich wie eine schleichende Krankheit. Am Anfang merkt man sie gar nicht. Manchmal merkt man sie nicht nur gar nicht rechtzeitig, sondern gar nicht. Wenn man nicht selbst wach, oder nicht von außen wachgerüttelt wird, konnte man so bis an sein Lebensende leben, ohne bemerkt zu haben, dass einen das Leben längst verlassen hatte.

Bei mir war es nur so ein Gefühl in der Magengegend. Manch einer nennt es Ahnung. Bei mir war so ein flaues Gefühl im Bauch. Ein bisschen so, wie wenn man erschreckt, als wenn man denkt, dass man seinen Zug oder Flug verpasst hatte. Nur  das der Schreck nicht so plötzlich und abrupt kam. Er schmorte unter der Oberfläche. Ich merkte lediglich, dass irgendetwas anders war. Oder nicht richtig geworden ist. Wirklich: Jeden Tag gab es fantastisches Essen. Ich lebte mit Mensch und Tier in Harmonie. Hatte unglaublich viel Zeit. Das Wort Zeit gab es im Grunde gar nicht mehr. Alles passierte zum richtigen Zeitpunkt. An dem Punkt an dem es Zeit war. Und das alles ganz ohne an sie zu denken. Ich machte und sah dass es gut war. Es war jedes Mal der richtige Zeitpunkt. Das war toll. Ich kam nie mehr zu spät. Nicht so wie sonst. Ich kam immer rechtzeitig und zur richtigen Zeit.

Die Tage fühlten sich so unendlich lang an. Wie eine ganze Woche. Alles war genauso wie ich es mir in meinem Ideal vorgestellt hatte. Und doch fing ich an mich daran zu gewöhnen. Ich verstand es nicht. Wie konnte ich im Paradies sein und mich daran gewöhnen? Meine Rituale waren bestimmt nicht der Grund. Selbst mein Morgen-Café trank ich in unterschiedlichem Rhythmen. Ich wurde sogar zu völlig verschiedenen Zeiten wach. Mal um 8, dann wieder um 9 oder 10. Manchmal sogar um 7 Uhr. Meinem Schlaf war es egal, ob wir im Paradies waren oder nicht. Wenn er genug hatte, weckte er mich. Es gab keine Regelmäßigkeiten, und doch:

In der vierten Woche wurde es noch komischer. Ich wurde richtig mürrisch. Ich verstand das Paradies nicht mehr. Wie war das möglich? Langsam machte sich das Schlimmste in mir breit, was so einem einfachen Mann wie mir passieren konnte. Es war keine Angst. Es war weder Virus noch irgendeine andere Krankheit: Es war ein Gedanke. Der Gedanke daran, dass etwas nicht mit mir stimmte. Der immer klarer und heller scheinende Gedanke, dass ich nicht für das Paradies geschaffen, nicht dafür gemacht war. Die alles erdrückende brutale Erkenntnis, dass ich das Paradies nicht ertrug, es nicht aushielt. Irgendetwas musste bei mir schiefgelaufen sein. Ich kam einfach nicht darauf was es war. Es war der immer stärker werdende Gedanke, dass ich wohl der einzige Mensch bin, der im Paradies nicht glücklich bleibt. Wie war das möglich? Das Paradies war doch für alle Menschen gemacht. Es war dafür gemacht, dass die Menschen dort glücklich werden, falls sie es in ihrem vorigen Leben nicht hinbekommen hatten. Sozusagen, so eine Art Lebensrückversicherung. Dein Leben hat nicht richtig geklappt? Du hast viel Ärger gehabt und noch mehr Mist gemacht? Macht nichts: Am Schluss kommt das Paradies. Da spätestens wirst du glücklich. Da wird alles viel viel besser. Wirst schon sehen. So in etwa wurde es überall erzählt.

Da saß ich nun und merkte, dass es bei mir nicht funktioniert. Bei mir war wiedermal alles anders. Dabei hatte ich es mir gar nicht so ausgesucht. Ich verstand es einfach nicht. Ich hatte das große Glück früh dahin zukommen und nach vier Wochen fällt mir nichts anderes ein, als es gewöhnlich und langweilig zu finden. Also das Paradies war offensichtlich der falsche Ort für mich. Dieser Gedanke setzte mir ziemlich zu. Was machte ich denn hier in meinem Leben, wenn nicht für das Paradies schuften? Während der vier Wochen wohnte ich im tollsten Haus, was ich mir nur vorstellen konnte. Ich hatte die tollsten Menschen um mich herum. Die nettesten Tiere, die schönste Vegetation die ich mir vorstellen konnte. Das Essen war das Beste. Auch die Weine waren einfach köstlich. Und die Sonne erst: Sie schien so gütig und warm, dass der Wind nur noch leise säuseln konnte. Es war alles so verdammt perfekt. Verflucht noch mal, es war in der vierten Woche nicht zum Aushalten. Nur wunderschöne Möbel um mich, tausend Jahre alte Olivenbäume um mich herum, Blumen, so wunderschön duftend und aussehend, wie die Zweibeinigen. Ich besoff mich an der ganzen Schönheit und bekam einen Rausch, das ich dachte ich bin Dionysos.

Dann kam die vierte Woche und alles änderte sich. Ich fühlte mich betrogen. Von allen. Egal ob Eltern, Freunde, Medien, Bücher: Sie alle hatten mich betrogen. Sie sprachen vom Paradies, lehrten selbst in der Schule, was es ist. Doch im Grunde redete zwar jeder davon, aber ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben. Das Paradies hat die Rechnung ohne mich gemacht. Es hat sich geirrt. Es hat nicht alle glücklich machen können. Mich jedenfalls nicht. Ich kann mit so einer perfekten Umgebung, mit so einem von permanenter Schönheit dauerüberfluteten Ort nichts anfangen. Ohne Raum für Gestaltung, ohne nicht wenigstens etwas Mangel werde ich mürrisch. So viel war mir klar. In meinem Leben musste es ein paar Defizite geben, sonst war der Ofen aus.

Doch das hatte auch etwas Gutes: Ich fühlte mich am Anfang zwar wie vom Club ausgeschlossen, wie ein Aussätziger. Aber es eröffneten sich auch ungeahnte Möglichkeiten. Wenn ich nicht im Paradies glücklich wurde, wenn ich Defizite und Mangel brauchte, um glücklich zu werden und zu bleiben. Das würde nämlich bedeuten, dass mein Paradies schon mein Leben selbst ist. Ich war schon da! Ich brauchte nicht mehr warten. Ich habe alles schon jetzt bekommen und kann es jetzt sofort genießen. Das ist doch fantastisch. Ich habe genug Mangel in mir und um mich herum. Wenn ich den brauche, um glücklich zu sein, dann bin ich es jetzt sofort im hier und jetzt. Das ist verrückt. Und meine Wirklichkeit. 

Ich grübelte noch eine Weile und fühlte mich besser und besser. Dass ich im Paradies verrückt werden würde, ahnte ich schon vorher. Das ist in etwa so, als wenn man einen Flug bucht, ohne zu wissen wo der hingeht und man ahnt, dass es dort anstrengend wird. So in etwa ging es mir mit dem Paradies. Götterolymp, Himmel, Garten Eden, Paradies: Das strengte mich alles an. Das hatte ich ihnen nie abgekauft. Noch nie geglaubt. Sollten die anderen warten und schuften, ausharren und malochen, sich selbst optimieren, trainieren und disziplinieren bis sie umfielen:

Ich würde in der Zwischenzeit einfach zufrieden und glücklich sein.