Archiv für den Monat: April 2014

Müde Hühner, dichter Wald

Es sind die Hühner. Wirklich. Nicht die Tauben, Puten, Enten und Gänse: Es sind die verdammten Hühner. Sie sind müde. Sie sind sauer. Sie haben keine Lust mehr Hühner zu sein. Das stell sich mal einer vor. Der Coyote will nicht mehr jagen. Der Fisch nicht mehr schwimmen. Das Känguru nicht mehr hüpfen. Wo soll das hinführen, wenn jeder macht was er will? Das geht doch nicht.

Nikolaus. Ich war einkaufen. Ich wollte Eier haben. Ich grub mir eine Schneise durch die spekulatiusverseuchten Einkaufswagen. Direkt bis vor die Auslage. Sie war leer. Nichts. Kein einziges Ei weit und breit. Diese verfluchten Freilandhühner. Nun wohnen sie schon auf einem Freilandhof. Er ist riesig. Eine Menge Hühner mit einer Menge Platz. Frei sollen sie sein. Deswegen nennen sie sich stolz Freilandhühner. Ich glaube das heißt so viel wie, dass sie auf dem Land leben und frei sind. Nicht ein paar Hundert: Sie sind ein paar Tausend. Jeden Tag geben sie frische Eier. Hunderte, vielleicht tausende. Aber heute? Nicht eins. War denen zu kalt? Es heißt zwar Freilandhuhn. Aber die wohnen doch nicht ständig im Freien. Das will mir doch keiner erzählen. Ich kann mir schlecht vorstellen, wie Hühner zwischen Schneeverwehungen herumrennen und angefrorene Körner freiklopfen. Die haben doch ein Zuhause, einen Stall, wo es nett und schön ist. Es gibt doch keine Eier-Saison. Für Spargel verstehe ich das. Für Grünkohl auch. Aber vor 50 Jahren gab es doch auch im Winter Eier. Ich verstehe das nicht.

Ich fragte die Verkäuferin. Auch sie hatte keine Ahnung. Das ging doch nicht. Alle verlassen sich darauf, dass die Dinge die Dinge bleiben. Die ganze Natur verlässt sich darauf. Sogar der Mensch. Hühner haben eine große Verantwortung. Sie geben Eier. Uns. Wir brauchen sie. Ich starrte das leere Regal an. War sprachlos. Langsam fing ich an zu ahnen, worum es ihnen ging. Denen ging es ums Prinzip. Waren sie müde? Vielleicht sind die Hühner müde Hühner zu sein. Oder fühlten sie sich nicht genug gewertschätzt?

Ich sah in das Regal, hatte ein Bild vor mir: Ein Tag wie der Andere. Der Hahn kräht und springt vereinzelt auf das ein oder andere Huhn drauf. Natürlich nur, falls es in so einem modernen Betrieb noch einen gibt, der nicht im Suppentopf gelandet ist. Sie rennen frei herum, picken ihre Körner. Sie unterhalten sich. Sie meckern ein bisschen herum. Ich finde, meckern ist ein Zeichen von Wohlstand. Vielleicht rennen und flattern sie den anderen ein bisschen was vor. Auch Hühner wollen beeindrucken. Tief in ihnen drin ist richtig Schöpfung. Da wächst das Ei. Immer wieder. Nach einem Tag ist es fertig. Sie legen es. Dann geht es von vorne los. Jeden Tag. Immer die gleiche Leier. Hühner haben kein Wochenende. Was für ein Leben ist das? War so ein Huhn zufrieden? Sollte es sich unter diesen Freilandbedingungen glücklich schätzen Eier legen zu dürfen? Ich glaube die Hühner sind mit ihrem eigenen Dasein müde.

Okay, ein Huhn legt Eier, weil es das kann. Es ist seine Bestimmung. Sie können es, also tun sie es. Vielleicht gibt es ein paar die ein Musikinstrument spielen können. Oder ein paar talentierte, die andere Sprachen sprechen. Ich habe von Hühnern gehört, die sich für Philosophie, Literatur und Kunst interessieren. Einige gehen sogar handwerklichen Arbeiten nach. Auch sie können Eier legen. Aber sie sind Ausnahmen. Die meisten picken ihre Körner, lassen hin und wieder den Hahn drauf und warten wie die Eier in ihnen wachsen. Jetzt streiken sie. Sie sind es leid. Jedenfalls ein paar von ihnen. Sie wollen Aufmerksamkeit.

(Anmerkung: Ich habe aus Wikipedia etwas über die industrielle Produktion von Hühnereiern gelesen. Die verwenden sogenannte Hybridhühner. Ein Hybridhuhn hat man, wenn meine geflügelten Eltern Geschwister sind, deine auch und wir zusammen vögeln. Das Ergebnis nennt man dann Hybridhuhn. So ein Inzucht-Huhn ist sehr arbeitsam. Bis zu 300 Eier legt so ein Inzucht-Superhuhn pro Jahr. Obwohl wir Eltern schon Inzucht sind, passiert es manchmal, dass etwas Unvorhergesehenes passiert: Beim Ausbrüten sind manchmal Hähne dabei. Zum Glück, finde ich. Aber das ist nur ein Unfall. Hähne sind nicht erwünscht. Die haben nicht viel Glück in der Welt der Freilandhühner: Sie finden keine Verwendung und werden dann ganz human mit CO² vergast. Oder wenn Gas gerade knapp ist, werden sie direkt geschreddert. Weltweit werden so ungefähr 2,5 Milliarden Hähne im Jahr zu Gartendünger gehäckselt. Alleine 40 Millionen in Deutschland.)

Und jetzt das. Keine Eier. Mit verschränkten Armen, riefen die Hühner einen Generalstreik aus. Ich verstand das. Jeden Tag wuchs da etwas in ihnen. Jeden Tag aufs Neue. Mit zusammengekniffenen Augen krempeln sie sich um und starren die Welt an, während die Leibesfrucht  Tag ein, Tag aus die Hintertür aufreißt. Ich glaube, das kann ganz schön anstrengend sein. Zumal sie nicht wissen, ob das dicke Ende schon durch ist oder ob es noch kommt. Das ist doch nicht unwichtig. Wenn dein Dasein dich fast explodieren lässt, willst du doch wissen, ob es schlimmer, oder erträglicher wird.

Bei uns Menschen ist das genauso. Ich kenne das. Meine Beziehungen waren manchmal ähnlich. Ich habe es selber erlebt. Wenn eine Beziehung gut für mich war, dann gab es nichts zu brüten. Nichts, aber auch gar nichts brauchte ich ausbrüten. Wenn mir etwas nicht gefiel, fing es an in mir zu rumoren. Je unzufriedener ich mich fühlte, desto kürzer war die Inkubationszeit. Was nicht funktionierte, brach irgendwann aus und machte sich selber fertig. Diesen Zeitpunkt rechtzeitig zu fühlen, fiel mir schwer. Wenn ich ihn verpasste, versteinerte ich von innen nach außen. Das war ganz schön harte Arbeit, so ein versteinertes System loszuwerden. Viel schlimmer war, dass ich Manche direkt ins Museum bringen musste. Ich habe es erlebt. Wenn wir uns gegenseitig mumifiziert hatten, dann war es aus mit dem Reden. Man verstand sich nicht mehr. Es war gar nicht möglich, mit all den Mullbinden vor dem Mund. Ich musste immer hoffen, dass uns das Museum für lebendige Geschichte annahm. Wenn eine Beziehung schon nicht mehr lebte, sollte man sie wenigstens ausstellten.

Ich habe manchmal gar nicht gemerkt, dass wir uns schon fast fertig eingewickelt hatten. Dass die Beziehung fertig war. Kein Stück. Nicht die Bohne. Gespürt? Wer spürt denn was, wenn er in einer Beziehung ist? Wo kommen wir denn da hin? Niemand merkt etwas. Kaum ein Hybridhuhn. Ich auch nicht, obwohl meine Eltern keine Geschwister sind.

Wenn eine Sache fertig ist, muss sie raus. Sie muss weg. Wenn ein Huhn sein Ei fertig hat, muss es raus. Doch es gibt Hühner die frei sind. Solche, die keine Eier legen brauchen. Irgendwann haben sie sich entschlossen, ein anderes Leben zu leben. Das kostet Mut. Sich von der Masse der Hybridhühner zu entfernen ist gar nicht so einfach. Unter ihnen zu leben, am besten noch mit dem Standard-Hybrid-Hahn, macht sie irre und krank, wenn sie an so einem Hybrid-Leben nicht interessiert sind. Ausbrechen kann helfen. Aber ich glaube, es packt nicht das Übel an der Wurzel. Ich kenne Hühner, die wurden in einen ganz weit entfernten Stall gebracht. Nach einer Weile waren sie im selben Trott. Bei Menschen ist es das Gleiche. Wir nehmen uns überall mit hin. Mir ging es genauso. Als ich nach Hamburg kam, war ich selber ja auch schon da. Selbst in Hamburg wiederholte ich nach wenigen Monaten den gleichen Kram wie auf Mallorca. Ich glaube deshalb, dass es ganz wichtig ist, dass wir zuerst bei uns selber anfangen. Uns ändern, ohne im selben Modell zu bleiben. Der Freilandhof macht krank? Dann geh doch. Geh weg. Fang neu an.

Ein Bauer aus unserem Ort erzählte mir eines Tages die Geschichte von einem besonderen Hybridhuhn. Das lernte einen von diesen Hybrid-Hähnen kennen, für den es keine Verwendung gab. Der Hahn war nicht ganz blöd und hatte keine Lust geschreddert zu werden. Er meldete sich freiwillig, die Hybridhühner ein bisschen glücklicher zu machen. Sein Hauptargument war, dass sie vielleicht mehr Eier gaben. Die Idee kam gut an. Er war gerettet. Erst einmal. Am Anfang fand er das alles ganz toll. Hühner, nichts als Hühner. Sein Traum ging in Erfüllung. War so das Leben? Häcksler oder Paradies?

Doch auch im Paradies wird uns langweilig. Irgendwann war der privilegierte Hahn müde. Jeden Tag die gleiche Leier. Er kam sich vor wie ein Marathonläufer. Eines Morgens war er auf einem Huhn drauf. Sie kannten sich schon länger. Während er so in den Sonnenuntergang ritt sah er, dass ihr Kopf im Takt wippte. So sehr, dass das Nachbarhuhn mitwippte um ihr ins Gesicht zu sehen, weil sie gerade dabei waren, sich über das Wetter zu unterhalten. Da wusste er, dass es Zeit war. Wenn die Drehzahl des Häckslers runterging, kniff er immer die Augen zusammen. Es erinnerte ihn an seine Alternativen. Er wusste, dass das nur passierte wenn die Maschine arbeiten musste. Er dachte manchmal daran, einfach mit reinzuspringen. Die ewige Routine nagte an ihm. Dann sah er sie zwischen all den schielenden Hybridhühnern: Sie hatte diesen offenen Blick. Aus irgendeinem Grund konnte sie die Welt richtig sehen. Da wusste er es: Die, oder Häcksler.

Eines Nachts, sie war wieder mal verzweifelt und dabei die Koffer zu packen, da klopfte er an ihren Stall. Die letzten Male hatte sie ihre Sachen wieder ausgeräumt. Sie hatte jedes Mal gekniffen. Diesmal war alles anders. Vorsichtig klopfte er ein zweites Mal. Sie ließ ihn leise rein und lächelte, als wenn sie auf ihn gewartet hatte. Er bot ihr an, zusammen auf Reisen zu gehen. Er erklärte ihr, dass wenn sie es nicht zusammen machten, würden sie beide Gefahr laufen, ihr Leben zu wiederholen, selbst wenn sie in einem anderen Stall gingen. Stall blieb Stall. Sie verstand. Sie wusste es schon lange. Aber ihre Furcht war immer noch groß. Zum Glück war der Hahn einen Schritt weiter: Er hakte sie unter und nahm sie und den Koffer einfach mit. Ich habe nie wieder von Ihnen gehört. Irgendwie finde ich die Geschichte schön. Ich glaube es geht den beiden sehr gut.

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir alle Brüter sind. Wir brüten ständig Irgendetwas aus. Immerzu. Egal ob wir schlafen, arbeiten oder sonst etwas tun. Oft merke ich gar nicht, dass sich wieder etwas anbahnt. Ich finde das ein bisschen verrückt. Das passierte immer wieder. Vor vielen Jahren hatte ich das mit Charlotte. Nach einiger Zeit merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Ich war ständig krank. Ständig hatte ich Erkältung. Oder irgendetwas anderes. Es war zum Verrücktwerden. Ich war nie krank. Wie konnte das sein? Charlotte war ein Traum von einer Frau. Ich begriff nicht. Unsere Beziehung war mutiert. Sie mutierte zu etwas Unnatürlichem. Etwas, was nicht mehr zu mir passte. Es machte mich schlichtweg krank. Aber ich sah es nicht. Als Alessandra dann kam, wurde das ganze dann beschleunigt. Der Übergang war zwar etwas unschön, aber es war gut so. Wir hatten uns diesmal nicht mumifiziert. Es hatte das Leiden verkürzt. Damals merkte ich schnell, dass Alessandra genau das war, was ich brauchte. Sie war meine Medizin. Sie wusste es. Ich nicht. Ich habe mich lange dagegen gesträubt, bis ich begriff: Ausbruch oder Schredder.

Wälder sind wie Hühner. Bäume wie Eier. Oft habe ich mich ertappt, dass ich mir die Karte eines Waldes angesehen habe, obwohl ich im Selben stand. Ein Bild zu verwenden, um etwas in der wirklichen Welt zu verstehen, ist ungefähr so, wie wenn ich im großen Buch des Lebens, über Selbiges lese, anstelle Meines zu leben. Oft habe ich den einzelnen Baum nicht gesehen, weil ich mit einer Karte vor ihm stand. Man sieht nicht die Wirklichkeit, wenn man auf eine Karte sieht. Wenn ich keine Eier mehr legen will, muss ich etwas anderes machen. Keine Bäume mehr sehen zu wollen heißt, dass ich aus dem Wald raus muss. Wenn ich kein Freilandhuhn mehr sein will, muss ich den Freilandhof verlassen. Es ist fast Kunst einem Wald zu erklären, dass er auch etwas anderes als Wald sein kann. Mit dem Huhn ist es das Gleiche: Um einem Huhn zu helfen das Eier legen sein zu lassen und stattdessen zu malen und Musik zu machen, dafür braucht man Geduld und Liebe. Viele Hühner trauen sich das nicht alleine. Manchmal hilft der unbeugsame Wille eines Hahnes, der dem Schredder entkommen ist. Neuanfang oder Museum.

Ich stand ziemlich lange vor dem Regal. Es fühlte sich an wie Stunden. Bestimmt waren es nur Minuten. Ich wollte nur 6. Ich träumte davon, dass in wenigen Minuten ein einziger Sechserkarton geliefert wurde. Eine Art Abschiedsgeschenk von besonderen Hühnern, die ihre letzten Eier in der langweiligen Umgebung von ständig pickenden und meckernden Freilandhühnern gelegt hatten, zur lieblich-sägenden Musik des nicht müde werden-wollenden Häckslers. Doch dann war ich froh, dass nicht mal diese 6 kamen. Irgendwie hatte ich die Hoffnung, dass wenigstens ein Huhn von einem Hahn auf Entdeckungsreise mitgenommen wurde. Von einem, der dem Schredder entkommen war. Todesangst macht den Verstand klar. Sie fördert unbändige Energie zutage. Genau die Richtige, um mit einem neugierig-entschlossenen Huhn einen Neuanfang zu beginnen.

Das leere Regal gähnte mich an. Ich schaute auf die Informationstafel und las: Freilandeier, von glücklichen Freilandhühnern gelegt. Ich schaute in das leere Eierregal und freute mich.