Schlagwort-Archive: Schredder

Zapfen und Schredder

Klar, lang und spitz: Da war er nun. Wie ein frostiges, langsam vor sich hin-tröpfelndes Rinnsal bildete sich im Stillen ein Gedanke, bis er wie ein großer Eiszapfen aus meinem Kopf ragte. Normalerweise passierte mir das ständig. Gedanken und Ideen wurden permanent ausgespuckt, wuchsen und wucherten vor sich hin, als wären sie eine Kreuzung aus einer chaotisch-wachsenden Amöbe und einem flammend-schnell sprießendem Schmarotzer-Pilz, den niemand gebeten hatte sich zu bedienen. Doch dieser Eine, machte mir zu schaffen.

Immer wenn ich meine geliebten Rituale feierte, egal ob es mein morgendlicher Tee oder Café, die Zeitung dazu oder das Buch, die wachsweichen 5,5 Minuten Eier und der Rot oder Weißwein zum Essen war: Immer öfter schwelte unter meiner Haut eine ungeduldig herumvagabundierende Unruhe. Es war die Selbe, wie damals vor 10 Jahren. So eine Mischung aus dekadenter Langeweile und Hoffnung endlich zu Scheitern. Immer häufiger stellte sich dieser stetig wachsende Gedanke in den Raum und versperrte mir die hysterische gute Laune, mit der ich mich immer noch hin und wieder zu-toxe. Doch weil ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte, wartete ich ab und versuchte mir ein Bild davon zu basteln. Ich wollte es verstehen. Seit Neuestem hielt mein Unterbewusstsein meinem Bewusstsein eine Karotte vor die Nase und fragte es, wer denn beim zu erwartenden Zuschnappen entschieden hätte. Seit 10 Jahren bin ich in Hamburg. Langsam kam ich an meine Grenzen.

Alles ödet mich irgendwie an, langweilt mich. Die gleichen Geräusche tagein und tagaus. Immer die gleichen Gerüche im Treppenhaus. Diese unverwechselbare Mischung aus Kohl, gekochten Kartoffeln und heißem Fett. Die gleichen Autos in der Straße. Christian mit seinem coolen Surfbus. Der Michael mit seinem Youngtimer aus Zuffenhausen, von dem er schon mit 5 Jahren geträumt hatte und den er als Matchboxauto damals auf seinem aus Sperrholz hektisch zusammengeleimten Nachtisch draufstehen hatte. Der Volvo von Hanno und Miriam, sowie ihre akribisch gepflegten BMW-Motorräder. Manchmal wusste ich schon Wochen vorher, wann Welches Fahrzeug neue Reifen bekam. Obwohl ich das nicht wollte. Die Dinge sprangen mich immer an.

Immer die gleichen Nachbarn grundsätzlich und im Allgemeinen. Ihr Stöhnen und Seufzen. Ihr Schreien. Ihre Verzweiflung. Ihre Menstruationen. Rhythmisch wie Musiknoten reihten sich die stillen und etwas launischen Tage der Damen des Hauses in den Wochenablauf, wie Müllabfuhr und Post. Ich sah wie sie zu oder abnahmen. Wenn das Leben neue Meteoriten in ihre Vorgärten einschlagen ließ. Wie sie strauchelten, hinfielen und wieder aufstanden. Ihre Launen und Aggressionen. Ihre Unfähigkeit Dinge zu ändern. Ihr Zagen und Zetern, wenngleich es eher eine schöne Gewohnheit, ein Ritual war, denn die Tatsache, dass sie unglücklich waren. Wir Menschen fanden uns schnell ab. Wir arrangierten uns, weil wir alle wollten, dass es gemütlich wird, oder bleibt. Man muss doch irgendwann mal ankommen, oder nicht? (Ja, wo eigentlich?)

Den immerzu gleichen Platz auf meiner, deiner oder unserer Coach einnehmen wollen zu müssen. MEIN Platz. Jeder braucht doch, sucht doch nach seinem Platz auf der Welt, in der heuchlerischen Gesellschaft, auf dem Klo, in der Familie und Partnerschaft, inklusive seinem leicht feuchten Toilette-Papier. Ist es nicht so? Oder Beim Essen: Am Tisch. Gleiche Zeiten, gleiche Sitzplätze. So auch im Bett. Im Bad vorm Spiegel, mit der Zahnbürste im Mund. Immer pflichtbewusst aber nach spätestens 1,5 Minuten nicht unerheblich gelangweilt an die Wand gelehnt, wenn es den Backenzähnen an den Kragen ging.

Die gleichen Sendungen im Fernseher; die gleichen Kartoffelchips. Das gleiche Bier, wie schon immer. Fußball am Samstag und Sonntag. Abendessen, immer um 19 Uhr. Bügelwäsche. „Ach Mensch: Den Knopf wollte ich doch schon so lange annähen.“ Ja, hast du nun aber die letzten 10 Male nicht, oder? (Manche bügelten sogar die Wäsche, die wir gar nicht sehen ;o) Die immerzu gleiche Café-Sorte. Mein Café-Becher. Ich trinke meinen Café nur aus meinem Café-Becher, mit meinem Löffel und meinem braunen Rohrzucker. Mein Waschmittel. Meine Bettwäsche. Der Frotteespannbezug aus dem skandinavischen Wohnparadies, den wir zusammen gekauft hatten, als noch alles so schön glatt, sauber und saftig war. Migräne. Die nach all den Jahren so plötzlich Wiederkehrende, weil man die Trost und Lustlosigkeit unter allen Umständen vermeiden will, die man dabei und danach empfindet und die einen fast genauso innerlich zerfrisst, wie die Einsamkeit und die Unfähigkeit über das zu sprechen, was jeder auf seiner gottverlassenen einsamen Insel erlebt und erleidet.

Dinner bei Freunden. Die gleichen abgedroschenen Themen, immer wieder und immerzu. Nochmal neu aufgewärmt, gewürzt mit vermeintlich Wichtigem aus Wirtschaft, Politik und dem geliebten Feuilleton, wo das Meiste doch mehr eine narzisstische Selbstdarstellung ist, denn echte Neugier am Gegenüber, an der anderen Meinung. Die seit Jahren gleichen Positionen. Sie ist liberal, er grün oder links. Nachhaltig sind sie beide. Sehen Arte und 3-Sat. Trennen den Müll, lesen Zeitung, sind höflich, gebildet und erfolgreich. Selten aufbrausend. Wollen die Sachen exzellent, statt nur Mittelklasse machen. Samstags, immer ins Restaurant gehen. Selber Laden, selber Platz, gleiche Uhrzeit.

Die gleichen armen Hunde, die verzweifelt versuchten, einen unbeobachteten Haufen zu machen, so wie früher, der ausnahmsweise nicht sofort in eine Plastiktüte brav aufgenommen wurde, um von Herrchen 10 Häuserblocks, noch körperwarm herumgeführt zu werden, nachdem es den Gehweg mit Sakrotan desinfiziert hat. Gott, wie ich die alten Zeiten herbeisehnen würde, wo man noch in Hundescheiße treten konnte und dann fluchen durfte.

Gewöhnliche Dekorationen in den gewöhnlich-schicken Wohnungen mit Wassernähe, von vermeintlichen Designexperten erst ins Gehirn, dann aufs Fenstersims gepflanzt. Die 4 Wände sahen irgendwie oft sehr ähnlich aus. Reisemitbringsel mit skandinavischen Papierlampen und Plasmabildschirmen, groß wie Tischtennisplatten, mit 170.000 Fernsehprogrammen.

Einkaufen. Zusammen oder alleine. Immer Samstags, zur selben Zeit. Dann Altglas und vielleicht noch das Auto waschen. Der Spaziergang, selbstverständlich immer die gleiche Route. Die Stammkneipe. Mein Stammkino; mein Stammplatz. Mein Stammhirn. Mein Leben. Mein. Deutschland.

Ich glaube, je mehr ich darüber nachdenke, drängt sich mir der Gedanke auf, dass ich meine ausgefransten Zelte in Hamburg abbrechen und sie woanders aufbauen sollte. Ich glaube ich sollte als Nächstes nach Italien oder Frankreich gehen. Ein anderes Land, eine andere Sprache und andere Sitten sollten mich neue Wege gehen lassen. Komischer Gedanke. Aus Hamburg wegziehen. Fühlt sich irgendwie komisch an. Fühl ich mich jetzt eigentlich als Hamburger? Ja? Nein? Ist schon komisch, das Wegziehen zu beschließen. Wie fühlt sich das an? Keine Ahnung.

Das ist er: Lang und klar ragt er in meine Welt, dieser eine verdammte Gedanke. Jener, der mich im Bett rumwälzen und mich meditieren lässt; dieser eine, der mein Gehirn an den Nägeln kauen lässt, ohne es zu merken und der nur von meiner blauäugigen Hoffnung ermuntert wird, gehegt und gepflegt zu werden. Neurosen sind toll. Besonders und vor allen Dingen, die von Großstadtmenschen. Nirgendwo blühen sie so gut, wie dort. Meine Eigenen genauso. Wenn ich aber so viel über sie weiß, dass ich zu bestimmten Uhrzeiten auf die Uhr sehe, weil ich das Fluchen von ihr oder ihm noch nicht gehört habe, dann wird es brenzlig. Dann sollte man über eine örtliche Veränderung nachdenken. Jedenfalls finde ich das.

Gestern ging ich einkaufen. Wein, Salat, Brot und Entrecôte. Das Übliche. Irgendetwas lag in der Luft. Ich weiß nicht, was es war. An der Fleischtheke ging es los. Der Mann hinterm Tresen war eine coole Sau: Dreitagebart, schlank, und tätowiert. Mein Alter. Vielleicht etwas jünger. Er fragte mich, was ich denn heute gerne Gutes haben wollen würde.

„Ich hätte gern ein richtig schön fettiges Stück Entrecôte.“,

Worauf er sich die Kollegin an seiner Seite greift und mich fragt, ob mir das Stück Recht wäre. Herrliches Gejohle und Lachen. Die Frau bestand drauf mitgenommen zu werden, was ich nur mit Mühe verhindern konnte, weil ich darauf bestand erst zu den Salatgurken gehen zu müssen, worauf sich der ganze Tresen wieder vor Lachen durchbog. Da wusste ich, es ist vollbracht. Nach 10 Jahren hatte ich es geschafft die Norddeutschen zum Lachen zu bringen. Mehr konnte ich nicht erwarten.

Als ich dann an den Zeitungen an der Kasse vorbeischlenderte, sprang mich die erste Seite der BILD an: Verdammt, jetzt war es sicher: Ich habe es all die Jahre immer geahnt und jetzt ist es raus: Die Bild-Redakteure lesen meinen Blog. Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt, das Land zu verlassen. Den Blog kann ich auch von Süd-Europa aus pflegen. Im Dezember schrieb ich über genau dies Thema und zwei Monate später, ist es in der BILD-Zeitung:

„Stoppt das Küken-Schreddern“, stand da geschrieben, mit dem Untertitel „21.Millionen Küken werden jährlich getötet, weil sie männlich sind“. Na sieh einer an.

Müde Hühner, dichter Wald

Es sind die Hühner. Wirklich. Nicht die Tauben, Puten, Enten und Gänse: Es sind die verdammten Hühner. Sie sind müde. Sie sind sauer. Sie haben keine Lust mehr Hühner zu sein. Das stell sich mal einer vor. Der Coyote will nicht mehr jagen. Der Fisch nicht mehr schwimmen. Das Känguru nicht mehr hüpfen. Wo soll das hinführen, wenn jeder macht was er will? Das geht doch nicht.

Nikolaus. Ich war einkaufen. Ich wollte Eier haben. Ich grub mir eine Schneise durch die spekulatiusverseuchten Einkaufswagen. Direkt bis vor die Auslage. Sie war leer. Nichts. Kein einziges Ei weit und breit. Diese verfluchten Freilandhühner. Nun wohnen sie schon auf einem Freilandhof. Er ist riesig. Eine Menge Hühner mit einer Menge Platz. Frei sollen sie sein. Deswegen nennen sie sich stolz Freilandhühner. Ich glaube das heißt so viel wie, dass sie auf dem Land leben und frei sind. Nicht ein paar Hundert: Sie sind ein paar Tausend. Jeden Tag geben sie frische Eier. Hunderte, vielleicht tausende. Aber heute? Nicht eins. War denen zu kalt? Es heißt zwar Freilandhuhn. Aber die wohnen doch nicht ständig im Freien. Das will mir doch keiner erzählen. Ich kann mir schlecht vorstellen, wie Hühner zwischen Schneeverwehungen herumrennen und angefrorene Körner freiklopfen. Die haben doch ein Zuhause, einen Stall, wo es nett und schön ist. Es gibt doch keine Eier-Saison. Für Spargel verstehe ich das. Für Grünkohl auch. Aber vor 50 Jahren gab es doch auch im Winter Eier. Ich verstehe das nicht.

Ich fragte die Verkäuferin. Auch sie hatte keine Ahnung. Das ging doch nicht. Alle verlassen sich darauf, dass die Dinge die Dinge bleiben. Die ganze Natur verlässt sich darauf. Sogar der Mensch. Hühner haben eine große Verantwortung. Sie geben Eier. Uns. Wir brauchen sie. Ich starrte das leere Regal an. War sprachlos. Langsam fing ich an zu ahnen, worum es ihnen ging. Denen ging es ums Prinzip. Waren sie müde? Vielleicht sind die Hühner müde Hühner zu sein. Oder fühlten sie sich nicht genug gewertschätzt?

Ich sah in das Regal, hatte ein Bild vor mir: Ein Tag wie der Andere. Der Hahn kräht und springt vereinzelt auf das ein oder andere Huhn drauf. Natürlich nur, falls es in so einem modernen Betrieb noch einen gibt, der nicht im Suppentopf gelandet ist. Sie rennen frei herum, picken ihre Körner. Sie unterhalten sich. Sie meckern ein bisschen herum. Ich finde, meckern ist ein Zeichen von Wohlstand. Vielleicht rennen und flattern sie den anderen ein bisschen was vor. Auch Hühner wollen beeindrucken. Tief in ihnen drin ist richtig Schöpfung. Da wächst das Ei. Immer wieder. Nach einem Tag ist es fertig. Sie legen es. Dann geht es von vorne los. Jeden Tag. Immer die gleiche Leier. Hühner haben kein Wochenende. Was für ein Leben ist das? War so ein Huhn zufrieden? Sollte es sich unter diesen Freilandbedingungen glücklich schätzen Eier legen zu dürfen? Ich glaube die Hühner sind mit ihrem eigenen Dasein müde.

Okay, ein Huhn legt Eier, weil es das kann. Es ist seine Bestimmung. Sie können es, also tun sie es. Vielleicht gibt es ein paar die ein Musikinstrument spielen können. Oder ein paar talentierte, die andere Sprachen sprechen. Ich habe von Hühnern gehört, die sich für Philosophie, Literatur und Kunst interessieren. Einige gehen sogar handwerklichen Arbeiten nach. Auch sie können Eier legen. Aber sie sind Ausnahmen. Die meisten picken ihre Körner, lassen hin und wieder den Hahn drauf und warten wie die Eier in ihnen wachsen. Jetzt streiken sie. Sie sind es leid. Jedenfalls ein paar von ihnen. Sie wollen Aufmerksamkeit.

(Anmerkung: Ich habe aus Wikipedia etwas über die industrielle Produktion von Hühnereiern gelesen. Die verwenden sogenannte Hybridhühner. Ein Hybridhuhn hat man, wenn meine geflügelten Eltern Geschwister sind, deine auch und wir zusammen vögeln. Das Ergebnis nennt man dann Hybridhuhn. So ein Inzucht-Huhn ist sehr arbeitsam. Bis zu 300 Eier legt so ein Inzucht-Superhuhn pro Jahr. Obwohl wir Eltern schon Inzucht sind, passiert es manchmal, dass etwas Unvorhergesehenes passiert: Beim Ausbrüten sind manchmal Hähne dabei. Zum Glück, finde ich. Aber das ist nur ein Unfall. Hähne sind nicht erwünscht. Die haben nicht viel Glück in der Welt der Freilandhühner: Sie finden keine Verwendung und werden dann ganz human mit CO² vergast. Oder wenn Gas gerade knapp ist, werden sie direkt geschreddert. Weltweit werden so ungefähr 2,5 Milliarden Hähne im Jahr zu Gartendünger gehäckselt. Alleine 40 Millionen in Deutschland.)

Und jetzt das. Keine Eier. Mit verschränkten Armen, riefen die Hühner einen Generalstreik aus. Ich verstand das. Jeden Tag wuchs da etwas in ihnen. Jeden Tag aufs Neue. Mit zusammengekniffenen Augen krempeln sie sich um und starren die Welt an, während die Leibesfrucht  Tag ein, Tag aus die Hintertür aufreißt. Ich glaube, das kann ganz schön anstrengend sein. Zumal sie nicht wissen, ob das dicke Ende schon durch ist oder ob es noch kommt. Das ist doch nicht unwichtig. Wenn dein Dasein dich fast explodieren lässt, willst du doch wissen, ob es schlimmer, oder erträglicher wird.

Bei uns Menschen ist das genauso. Ich kenne das. Meine Beziehungen waren manchmal ähnlich. Ich habe es selber erlebt. Wenn eine Beziehung gut für mich war, dann gab es nichts zu brüten. Nichts, aber auch gar nichts brauchte ich ausbrüten. Wenn mir etwas nicht gefiel, fing es an in mir zu rumoren. Je unzufriedener ich mich fühlte, desto kürzer war die Inkubationszeit. Was nicht funktionierte, brach irgendwann aus und machte sich selber fertig. Diesen Zeitpunkt rechtzeitig zu fühlen, fiel mir schwer. Wenn ich ihn verpasste, versteinerte ich von innen nach außen. Das war ganz schön harte Arbeit, so ein versteinertes System loszuwerden. Viel schlimmer war, dass ich Manche direkt ins Museum bringen musste. Ich habe es erlebt. Wenn wir uns gegenseitig mumifiziert hatten, dann war es aus mit dem Reden. Man verstand sich nicht mehr. Es war gar nicht möglich, mit all den Mullbinden vor dem Mund. Ich musste immer hoffen, dass uns das Museum für lebendige Geschichte annahm. Wenn eine Beziehung schon nicht mehr lebte, sollte man sie wenigstens ausstellten.

Ich habe manchmal gar nicht gemerkt, dass wir uns schon fast fertig eingewickelt hatten. Dass die Beziehung fertig war. Kein Stück. Nicht die Bohne. Gespürt? Wer spürt denn was, wenn er in einer Beziehung ist? Wo kommen wir denn da hin? Niemand merkt etwas. Kaum ein Hybridhuhn. Ich auch nicht, obwohl meine Eltern keine Geschwister sind.

Wenn eine Sache fertig ist, muss sie raus. Sie muss weg. Wenn ein Huhn sein Ei fertig hat, muss es raus. Doch es gibt Hühner die frei sind. Solche, die keine Eier legen brauchen. Irgendwann haben sie sich entschlossen, ein anderes Leben zu leben. Das kostet Mut. Sich von der Masse der Hybridhühner zu entfernen ist gar nicht so einfach. Unter ihnen zu leben, am besten noch mit dem Standard-Hybrid-Hahn, macht sie irre und krank, wenn sie an so einem Hybrid-Leben nicht interessiert sind. Ausbrechen kann helfen. Aber ich glaube, es packt nicht das Übel an der Wurzel. Ich kenne Hühner, die wurden in einen ganz weit entfernten Stall gebracht. Nach einer Weile waren sie im selben Trott. Bei Menschen ist es das Gleiche. Wir nehmen uns überall mit hin. Mir ging es genauso. Als ich nach Hamburg kam, war ich selber ja auch schon da. Selbst in Hamburg wiederholte ich nach wenigen Monaten den gleichen Kram wie auf Mallorca. Ich glaube deshalb, dass es ganz wichtig ist, dass wir zuerst bei uns selber anfangen. Uns ändern, ohne im selben Modell zu bleiben. Der Freilandhof macht krank? Dann geh doch. Geh weg. Fang neu an.

Ein Bauer aus unserem Ort erzählte mir eines Tages die Geschichte von einem besonderen Hybridhuhn. Das lernte einen von diesen Hybrid-Hähnen kennen, für den es keine Verwendung gab. Der Hahn war nicht ganz blöd und hatte keine Lust geschreddert zu werden. Er meldete sich freiwillig, die Hybridhühner ein bisschen glücklicher zu machen. Sein Hauptargument war, dass sie vielleicht mehr Eier gaben. Die Idee kam gut an. Er war gerettet. Erst einmal. Am Anfang fand er das alles ganz toll. Hühner, nichts als Hühner. Sein Traum ging in Erfüllung. War so das Leben? Häcksler oder Paradies?

Doch auch im Paradies wird uns langweilig. Irgendwann war der privilegierte Hahn müde. Jeden Tag die gleiche Leier. Er kam sich vor wie ein Marathonläufer. Eines Morgens war er auf einem Huhn drauf. Sie kannten sich schon länger. Während er so in den Sonnenuntergang ritt sah er, dass ihr Kopf im Takt wippte. So sehr, dass das Nachbarhuhn mitwippte um ihr ins Gesicht zu sehen, weil sie gerade dabei waren, sich über das Wetter zu unterhalten. Da wusste er, dass es Zeit war. Wenn die Drehzahl des Häckslers runterging, kniff er immer die Augen zusammen. Es erinnerte ihn an seine Alternativen. Er wusste, dass das nur passierte wenn die Maschine arbeiten musste. Er dachte manchmal daran, einfach mit reinzuspringen. Die ewige Routine nagte an ihm. Dann sah er sie zwischen all den schielenden Hybridhühnern: Sie hatte diesen offenen Blick. Aus irgendeinem Grund konnte sie die Welt richtig sehen. Da wusste er es: Die, oder Häcksler.

Eines Nachts, sie war wieder mal verzweifelt und dabei die Koffer zu packen, da klopfte er an ihren Stall. Die letzten Male hatte sie ihre Sachen wieder ausgeräumt. Sie hatte jedes Mal gekniffen. Diesmal war alles anders. Vorsichtig klopfte er ein zweites Mal. Sie ließ ihn leise rein und lächelte, als wenn sie auf ihn gewartet hatte. Er bot ihr an, zusammen auf Reisen zu gehen. Er erklärte ihr, dass wenn sie es nicht zusammen machten, würden sie beide Gefahr laufen, ihr Leben zu wiederholen, selbst wenn sie in einem anderen Stall gingen. Stall blieb Stall. Sie verstand. Sie wusste es schon lange. Aber ihre Furcht war immer noch groß. Zum Glück war der Hahn einen Schritt weiter: Er hakte sie unter und nahm sie und den Koffer einfach mit. Ich habe nie wieder von Ihnen gehört. Irgendwie finde ich die Geschichte schön. Ich glaube es geht den beiden sehr gut.

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir alle Brüter sind. Wir brüten ständig Irgendetwas aus. Immerzu. Egal ob wir schlafen, arbeiten oder sonst etwas tun. Oft merke ich gar nicht, dass sich wieder etwas anbahnt. Ich finde das ein bisschen verrückt. Das passierte immer wieder. Vor vielen Jahren hatte ich das mit Charlotte. Nach einiger Zeit merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Ich war ständig krank. Ständig hatte ich Erkältung. Oder irgendetwas anderes. Es war zum Verrücktwerden. Ich war nie krank. Wie konnte das sein? Charlotte war ein Traum von einer Frau. Ich begriff nicht. Unsere Beziehung war mutiert. Sie mutierte zu etwas Unnatürlichem. Etwas, was nicht mehr zu mir passte. Es machte mich schlichtweg krank. Aber ich sah es nicht. Als Alessandra dann kam, wurde das ganze dann beschleunigt. Der Übergang war zwar etwas unschön, aber es war gut so. Wir hatten uns diesmal nicht mumifiziert. Es hatte das Leiden verkürzt. Damals merkte ich schnell, dass Alessandra genau das war, was ich brauchte. Sie war meine Medizin. Sie wusste es. Ich nicht. Ich habe mich lange dagegen gesträubt, bis ich begriff: Ausbruch oder Schredder.

Wälder sind wie Hühner. Bäume wie Eier. Oft habe ich mich ertappt, dass ich mir die Karte eines Waldes angesehen habe, obwohl ich im Selben stand. Ein Bild zu verwenden, um etwas in der wirklichen Welt zu verstehen, ist ungefähr so, wie wenn ich im großen Buch des Lebens, über Selbiges lese, anstelle Meines zu leben. Oft habe ich den einzelnen Baum nicht gesehen, weil ich mit einer Karte vor ihm stand. Man sieht nicht die Wirklichkeit, wenn man auf eine Karte sieht. Wenn ich keine Eier mehr legen will, muss ich etwas anderes machen. Keine Bäume mehr sehen zu wollen heißt, dass ich aus dem Wald raus muss. Wenn ich kein Freilandhuhn mehr sein will, muss ich den Freilandhof verlassen. Es ist fast Kunst einem Wald zu erklären, dass er auch etwas anderes als Wald sein kann. Mit dem Huhn ist es das Gleiche: Um einem Huhn zu helfen das Eier legen sein zu lassen und stattdessen zu malen und Musik zu machen, dafür braucht man Geduld und Liebe. Viele Hühner trauen sich das nicht alleine. Manchmal hilft der unbeugsame Wille eines Hahnes, der dem Schredder entkommen ist. Neuanfang oder Museum.

Ich stand ziemlich lange vor dem Regal. Es fühlte sich an wie Stunden. Bestimmt waren es nur Minuten. Ich wollte nur 6. Ich träumte davon, dass in wenigen Minuten ein einziger Sechserkarton geliefert wurde. Eine Art Abschiedsgeschenk von besonderen Hühnern, die ihre letzten Eier in der langweiligen Umgebung von ständig pickenden und meckernden Freilandhühnern gelegt hatten, zur lieblich-sägenden Musik des nicht müde werden-wollenden Häckslers. Doch dann war ich froh, dass nicht mal diese 6 kamen. Irgendwie hatte ich die Hoffnung, dass wenigstens ein Huhn von einem Hahn auf Entdeckungsreise mitgenommen wurde. Von einem, der dem Schredder entkommen war. Todesangst macht den Verstand klar. Sie fördert unbändige Energie zutage. Genau die Richtige, um mit einem neugierig-entschlossenen Huhn einen Neuanfang zu beginnen.

Das leere Regal gähnte mich an. Ich schaute auf die Informationstafel und las: Freilandeier, von glücklichen Freilandhühnern gelegt. Ich schaute in das leere Eierregal und freute mich.