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Natur – Odyssee 2020 CW46

15.November – sogar D hatte mitbekommen, dass die Amerikaner einen neuen Präsidenten wählen. Jedoch stand diese Wahl nicht auf D’s Prioritäten-Liste. Zu viel Aufmerksamkeit für zu wenig Menschen, fand er. Auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten machte man mit Spotlights auf die politische Führung weiter, während die wahren Herausforderungen bei allen anderen darunter lagen. Ständig blickten die Menschen in die falsche Richtung – bewusst oder unbewusst – zu wenig änderte sich, wenn man von uns umgebenden Gegenständen absah.

Seit zwei Wochen war D in Norddeutschland – Masken trug man hier auch und der fortschreitende Kontaktverlust der Menschen richtete auch hier verheerenden Schaden an. Nicht so sehr auf dem ersten Moment sichtbar, sondern diffiziler im Verborgenen.

Schneller als sonst, missverstanden sich Menschen, auch ihre Geduld war beim Zuhören noch schneller als sonst verbraucht. Warum sollte man also ausgehen, wenn man sich kaum noch etwas zu sagen hatte?

Ein wenig sprachlos betrachtete D diesen Trend und konnte doch wenig dagegen tun – doch dann kam ihm ein Gedanke: Vielleicht war es jetzt an der Zeit für seine erste Lesung; vielleicht fand sich eine Buchhandlung, mit der D’s Verlag etwas auf die Beine stellen konnte. Ein alter Freund D’s machte diesen Vorschlag und D dachte zum ersten Mal ernsthaft darüber nach.

Vieles schien im November 2020 anders zu sein, als in allen anderen davor; Humor und Spaß schienen die einzigen Möglichkeiten zu bleiben, um in Zeiten wie diesen seine Lebensfreude zu bewahren. Wie also konnte das aussehen? Zuerst kam D auf die Idee, über Skurrilitäten des Alltags oder andere Dinge zu schreiben, die einen zum Schmunzeln einluden.

Als Nächstes standen Natur-Phänomene auf dem Plan, die uns daran erinnerten, dass wir alle vom Erdboden verschwinden werden, weil der ewige Sieger Mutter Natur blieb, auch wenn das 300ste babylonische Reich ganz überrascht auf die Idee kommen sollte, einen nie dagewesenen schwindelerregend hohen Turm zu bauen, um die Beherrschung der Erde zu demonstrieren.

Dann sprang es D ins Gesicht – für ihn waren es die kleinen Dinge, die den Alltag schön machten. Ein Kaffee oder Tee mit einem guten Buch; ein Spaziergang bei gutem Wetter; gutes Essen und Trinken und warme vertraute Blicke und sanfte Berührungen mit der Liebsten; erschwingliche Dinge – vielleicht war es an der Zeit, sich seiner wahren Werte zu besinnen, dachte er und sah zufrieden, wie ein Baum einen Betonpfeiler erst umwachsen und dann zerstört hatte.

Wir Menschen sollten endlich aufhören Mutter Natur

und uns gegenseitig zu bekämpfen…….

……..!

Gefangen im Schneckenhaus

Drriiiinnggg!

Drriiiinnggg!

Drriiiinnggg!

Ich reiß die Augen auf, starre auf mein nervendes Smartphone, dass mir mit seiner gehässigen Weckfunktion mächtig den schockgefrosteten Morgen vermiesen will.

„So eine verfluchte Scheiße; ich habe mich doch eben erst hingelegt!“

Mühsam, wie ein Seehund bei Ebbe, rolle ich mich aus dem Bett, kratze mich unterm Bauchnabel und bewege vorsichtig, leicht kreisend meine Arme, als wären es die versteinerten Äste eines alten Olivenbaums, der regungslos und knöchern der Zeit beim Altern zusieht. Acht Uhr morgens. Die Stadt erwacht. Draußen hupen sich früh Genervte ihren Weg ins Büro; vielleicht auf eine Baustelle, auf ein Amt oder zur Bäckerei. Ich geh zum Fenster, schmecke den struppigen und stark verfilzten Teppich, den der Whiskey gestern Nacht in meinem Rachen hinterlassen hat. Zum Glück ist er in guter Gesellschafft. Meine Zunge fühlt sich an wie eine verschlammte Moräne, auf deren Haut kleine Pilze sprießen, die nach einem düsteren Abend im Dreck, schwer angeschossen und verträumt mit den Augen blinzelt, während ich aus dem Fenster sehe.

Bing!

Bing! Bing! Bing!

Bing! Bing!

Whatsapp-Nachrichten prasseln auf mein Telefon ein, wie ungeduldige fette Tropfen eines frühsommerlichen Wolkenbruchs. Ich seufze, lasse mich und meine Schultern ein wenig hängen. Datenregen. Informationskompost, der mich durch den Ausguss der digitalen Welt mitreißen und verschlingen will.

„Was sind wir doch für eine Bande von abhängigen Sklaven. Null und Eins. Schwarz und weiß. Die Maschinen haben längst gewonnen.“

Schwer stöhnend meckere ich ein wenig herum. Fühle mich gut dabei. Seelischer Stuhlgang. Ich kriege schnell Verstopfung, wenn ich alles runterschlucke. Weit entfernt schneidet eine stumpfe Kreissäge feinen Holzschnee aus schlafenden Bäumen, der dumpf und leise zu Boden rieselt. Als ich meine Hand flach auf den Bauch lege merke ich, dass es mein knurrender Magen ist, der da verzweifelt vor sich hin-sägt. Ich entschließe mich vor dem Frühstück zu laufen. Alles braucht Ordnung und Disziplin. Besonders mein Sport. Schnell schlüpfe ich in meine schwarzen Sportklamotten, stecke in Laufschuhen, greif nach dem Zimmerschlüssel, öffne und verschließe die Tür in einer fließenden Drehung und gehe zum Aufzug.

„Bonjour Monsieur. Bonne Journée.“

„Bonjour. Merci, bonne Journée aussi.“

Dunkelhaariger Zimmerservice. Vermutlich Marokkanerin. Mitte Zwanzig. Schüchtern. Hübsch. Starke Behaarung an den Unterarmen, vermutlich auch Woanders. Augen wie große dunkle glänzende Murmeln. Kräftiger Mund, mit einer etwas zu obszönen Oberlippe. Gibt ihr was Billiges. Züchtiger langer Rock. Hässliche flache Schuhe. Großmutterstyle zum Schutz vor Männern mit nervöser Libido und Doppelnamen.

Der Aufzug kommt. Sanft rollend geht er leicht quietschend auf.

„Bonjour Messieures.“

„Bonjour.“, antworteten mir die zwei grauen Geschäftsmänner im Chor. Siegelring und Manschetten. Flache filigrane Uhr. Wahrscheinlich Weißgold. Mittelgroß, vielleicht 1,75. Graues Haar. Maßschuhe, vermutlich mit Leisten in London. Franzose, vermutlich Diplomat, ENA Absolvent. Sieht ein wenig wie BHL’s jüngerer Bruder aus. Der Mann daneben ist größer und schlanker. Hohe Stirn. Hat was Aristokratisches. Ebenfalls schwerer Ring an der Hand, aber kunstvoller, mit merkwürdigen Linien darauf. Feiner Zwirn. Tief liegende Augen, keine Uhr. Dunkelgraue kurze Haare. Italiener. Mailand oder Rom. Wahrscheinlich Letzteres.

Die glänzenden Schiebetüren rollen wieder zusammen, schließen den Aufzug sanft aufeinanderprallend. Langsam, den Rücken den beiden Anzugträger zudrehend, blicke ich gedankenversunken auf die mit Schrammen und Kratzern übersäte Innenseite der Blechtüren. Leicht verzerrt, wie bei gebogenen Spiegeln einer Geisterbahn, sehe ich ihre matten Spiegelbilder auf den Metallblechen hin und her-huschen. Sie rascheln ein wenig mit der Kleidung herum. Sehen geradeaus, der Franzose zwischendurch hin und wieder auf die Uhr, oder an die Decke. Betretenes Fahrstuhlschweigen. Jeder fragt sich, wie und wohin man am besten wegschauen kann, ohne das es aussieht, als würde man bewusst den zu nahen und aufdringlichen Blicken ausweichen, so als wären es Schwerter der Tafelrunde. Ruckend bleibt der Fahrstuhl stehen, fährt die blechernen Vorhänge zur Seite.

„Rez de Chaussée.“, säuselt eine schmachtende Frauenstimme, als würde sie bei FIP einen Song ansagen. Gemütlich aber bestimmt gehe ich in die Empfangshalle, nicke kurz der Rezeptionistin zu, schlender durch die langsam rotierende Drehtür, entschließe mich spontan heute mal links herum zu laufen und schlage nach wenigen dehnenden Ausfallschritten in meine an Nachlässigkeit erinnernde übliche Laufgeschwindigkeit, bei der ich nicht hechle wie ein sabbernder Boxer, aber auch nicht zu langsam rumbummle, als wäre ich ein Rentner, oder ein Professor für Philologie. Straßenlärm. Knatternde Scooter, die zwischen Autos herumwuseln, wie panische Ameisen, die einen Ameisenbären gewittert haben. Wie ein Grubenarbeiter schaufle ich mir in Schlangenlinien einen Weg um die Passanten herum, die Zigarette und Anderes rauchend alles in ein Meer von Farben, Gerüchen und Lauten tauchen, das sich mit seinen Reizen an meine Sinne klammert, wie ein leckgeschlagenes Schiff, dass den Seenotkreuzer zum Bleiben bittet.

Ich überquere eine Straße. Eine Zweite. Dann eine Dritte. Ich habe meinen Rhythmus gefunden. Fühle mich gut. Arme und Beine schwingen tänzelnd über die Gehwegplatten, als müsste ich spielerisch und chaotisch verstreuten Pfützen ausweichen. Fühle mich wie ein Teenie. In einiger Entfernung hält kurz vorm Einmünden in die Hauptstraße ein Postwagen. Vielleicht ist es auch ein Geldtransporter oder so etwas. Er ruckelt kurz, lässt den Motor an und fährt wieder eine Fahrzeuglänge zurück in die Straße, aus der er kam. Sehr umsichtig, denke ich und entschließe mich, dort links abzubiegen und die Strecke zu vergrößern. Fühle mich gut. Leicht und beschwingt. Vergnügt, mit einem Hauch gespannter Neugierde sehe ich mir die Fußgänger an. Jeder Dritte, bestimmt sogar jeder Zweite hat sein Telefon am Ohr. Jeder redet mit Jedem, ganz isoliert auf seiner eigenen Insel, umringt von Tausend anderen. Ich laufe in einer gedehnten S-Kurve um zwei Pärchen, ein paar Jugendlichen und Studenten herum, Dann biege ich links ab.

Ich denke an meine Liste, schwenke ab und denke an meine Füße, spüre in sie rein; dann fühle ich mein Herz und Blicke der Passanten; sehe die penibel geputzten hohen Fenster der großen Stadthäuser. Ein paar Radfahrer kommen mir entgegen. Andere fahren auf der Straße. Autotüren klappen. Billige und Teure. In einiger Entfernung öffnen Busse zischend ihre Türen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie die Schiebetür des Lieferwagens zur Seite rollt, während mir eine schöne Frau in einem bordeauxroten Kleid entgegen kommt, dass sehr körpernah und figurbetont geschnitten ist und zeigt, dass wir noch keinen Sommer haben. Frischer Wind verlangt ihr viel Disziplin und Stehvermögen ab, um die kalten Wege im Freien zu ertragen, zu Gunsten ihrer aufreizenden Kleidung, wo doch jede Pariser Frau schon als kleines Mädchen weiß, sollte sie auch nur halbwegs etwas auf sich halten, dass jeder Schritt in Paris dem Catwalk auf dem Laufsteg gleichkommt. Ich sehe ihre schönen langen Beine, höre gedämpftes Rascheln; ich glaube es kommt von rechts. War das nicht……? Bumm!

Dunkelheit.

Dröhnend pocht mein Kopf, gleich einer verbeulten Kesselpauke. Jemand, oder Etwas hat mich niedergeschlagen. Blitzartig ist mein Verstand wach. Was war das? Wo bin ich? Ich sehe nichts, habe meine Augen auf, bin aber blind. Man hat mir einen Sack über den Kopf gezogen, mich an Armen und Beinen gefesselt. Kabelbinder schnüren ins Fleisch, drücken an den Gelenken. Okay. Ruhe bewahren und warten. Mein Kopf donnert wie ein Hauptbahnhof, bei dem alle Züge mit Höchstgeschwindigkeit durchrauschen und ohne Passagiere ziellos umherrattern, bis ihnen der Saft abgedreht wird. Ich glaube, ich trage Kopfhörer oder so etwas Ähnliches und spüre wie mein Blut durch die Adern rauscht. Ich höre nur mich und meine Gedanken. Kein einziges Geräusch. Ich versuche mich ganz auf meinen Geruchssinn zu konzentrieren. Was ist denn das? Was ich rieche kommt mir bekannt vor. Aus Kindertagen. Was ist das bloß? Was war das noch gleich? Ich komme nicht auf den Namen. Verdammt. Doch, natürlich: Ich hab es! Man hat mir Wick-Vaporub oder so etwas Ähnliches unter die Nase geschmiert. Profis. Verdammt. Okay. Mein Notprogramm läuft sofort an.

„Wo bin ich? Wer konnte mich entführt haben? Warum? Was weiß ich? Welche Fakten habe ich?“

Offensichtlich sitze ich auf einem Stuhl. Er ist leicht gepolstert. Meine Füße berühren den Boden. Sie stecken immer noch in meinen Laufschuhen. Bis auf die Kabelbinder an Ellenbogen und an den Knien, ist alles okay. Sonst bin ich nicht gefesselt, weder am Stuhl selbst, noch an der Lehne. Schüchtern, ein wenig vorsichtig bewege ich mich und beuge mich leicht nach vorne. Argh! Scheiße! Was ist das! Plötzlich stürmt ein ohrenbetäubendes Kreischen in meine Ohren. Verdammt, es sind Kopfhörer und kein Gehörschutz! Diese Schweine. Schreckliche bis auf meinen tiefsten Grund bohrende Frequenzen schrauben sich durch meine Ohren, direkt in mein Gehirn; es tut höllisch weh, als wenn es einem das Gehirn zerfrisst. Wie das Quietschen von Kreide auf einer Tafel, nur tausendmal schlimmer und lauter. Ich merke, wie mir langsam schwarz vor Augen wird. Plötzlich komme ich auf die Idee, meinen Oberkörper gerade aufzurichten und wieder an die Lehne zu drücken. Sofort herrscht totale Stille.

So also wollen sie mich kontrollieren. Was für eine elegante Quälerei. Mein Herz wummert; ich spüre wie es pocht; wie mein Atem immer schneller und schneller geht; all das Training hilft nur begrenzt. Angst kommt mir bitter den Rücken raufgekrochen. Ich denke an Wüste, an Hitze. Was ist denn das? Meine Lippen sind spröde und gerissen; mein Mund völlig ausgetrocknet; mein Magen hängt in den Kniekehlen. Um Speichel zu bilden, beiße ich mir verzweifelt mit einem Backenzahn auf die Zunge. Scheiße tut das weh! Es brennt fürchterlich. Tränen schießen mir in die Augen; sofort füllt sich mein Mund mit Wasser; nicht viel aber etwas; wenigstens kann ich wieder schlucken.

Wie lange bin ich hier? Und vor Allem, was wollen die von mir? Ich denke an Hemisync, das Institut zur Gehirnforschung. Töne können mächtig sein, im Guten wie auch im….schnell entschließe ich mich den Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Dafür fahre ich mich immer weiter runter; langsam immer weiter und weiter. Erste Regel bei Kidnapping: Ruhe bewahren. Energie sparen. Ich konzentriere mich auf meinen Atem. Zähle ihn langsam rauf und runter. Einatmen, dann wieder ausatmen.

„Los, jetzt konzentrier dich. Rein und wieder raus. Lass die Luft langsam reinströmen, so ist es gut. Sehr gut. Und wieder rausströmen. Besser. Viel besser.“

Ich merke wie mein Puls weiter runtergeht, sich normalisiert, wie das Adrenalin zurückgedrängt wird. Nach einer Weile bin ich wieder auf humanere hundert Herzschläge pro Minute runter. Komm schon. Weiter. Weiter, ganz langsam ein.- und dann; genau; langsamer, noch langsamer. Viel besser.

Mein Kreislauf stabilisiert sich. Nach einer Weile komm ich auf zwei Atmungen pro Minute, jedenfalls schätzte ich das ungefähr so ab. Doch verdammt noch mal, was soll das alles? Wer sind die? Und vor allem, wo bin ich?

„Schön weiter machen: Ein und wieder ausatmen. Ganz langsam.“

Ich höre meinem eigene Atem, meiner eigenen Stimme zu. Endlich konnte ich wieder klar denken, die Situation analysieren. Okay, Gegenwehr ist sinnlos; wenn ich Anstalten mache loszukommen, werden sie mir den Schädel mit ihren verfluchten Tönen sprengen; wenn ich anfange loszureden, einen Dialog zu beginnen, werden sie mir mit ihrem verfluchten Konzert des Wahnsinns auch das Licht ausknipsen. Was bleibt? Warten? Nur warten? Wirklich nur das? Also warte ich.

 

 

Müde Hühner, dichter Wald

Es sind die Hühner. Wirklich. Nicht die Tauben, Puten, Enten und Gänse: Es sind die verdammten Hühner. Sie sind müde. Sie sind sauer. Sie haben keine Lust mehr Hühner zu sein. Das stell sich mal einer vor. Der Coyote will nicht mehr jagen. Der Fisch nicht mehr schwimmen. Das Känguru nicht mehr hüpfen. Wo soll das hinführen, wenn jeder macht was er will? Das geht doch nicht.

Nikolaus. Ich war einkaufen. Ich wollte Eier haben. Ich grub mir eine Schneise durch die spekulatiusverseuchten Einkaufswagen. Direkt bis vor die Auslage. Sie war leer. Nichts. Kein einziges Ei weit und breit. Diese verfluchten Freilandhühner. Nun wohnen sie schon auf einem Freilandhof. Er ist riesig. Eine Menge Hühner mit einer Menge Platz. Frei sollen sie sein. Deswegen nennen sie sich stolz Freilandhühner. Ich glaube das heißt so viel wie, dass sie auf dem Land leben und frei sind. Nicht ein paar Hundert: Sie sind ein paar Tausend. Jeden Tag geben sie frische Eier. Hunderte, vielleicht tausende. Aber heute? Nicht eins. War denen zu kalt? Es heißt zwar Freilandhuhn. Aber die wohnen doch nicht ständig im Freien. Das will mir doch keiner erzählen. Ich kann mir schlecht vorstellen, wie Hühner zwischen Schneeverwehungen herumrennen und angefrorene Körner freiklopfen. Die haben doch ein Zuhause, einen Stall, wo es nett und schön ist. Es gibt doch keine Eier-Saison. Für Spargel verstehe ich das. Für Grünkohl auch. Aber vor 50 Jahren gab es doch auch im Winter Eier. Ich verstehe das nicht.

Ich fragte die Verkäuferin. Auch sie hatte keine Ahnung. Das ging doch nicht. Alle verlassen sich darauf, dass die Dinge die Dinge bleiben. Die ganze Natur verlässt sich darauf. Sogar der Mensch. Hühner haben eine große Verantwortung. Sie geben Eier. Uns. Wir brauchen sie. Ich starrte das leere Regal an. War sprachlos. Langsam fing ich an zu ahnen, worum es ihnen ging. Denen ging es ums Prinzip. Waren sie müde? Vielleicht sind die Hühner müde Hühner zu sein. Oder fühlten sie sich nicht genug gewertschätzt?

Ich sah in das Regal, hatte ein Bild vor mir: Ein Tag wie der Andere. Der Hahn kräht und springt vereinzelt auf das ein oder andere Huhn drauf. Natürlich nur, falls es in so einem modernen Betrieb noch einen gibt, der nicht im Suppentopf gelandet ist. Sie rennen frei herum, picken ihre Körner. Sie unterhalten sich. Sie meckern ein bisschen herum. Ich finde, meckern ist ein Zeichen von Wohlstand. Vielleicht rennen und flattern sie den anderen ein bisschen was vor. Auch Hühner wollen beeindrucken. Tief in ihnen drin ist richtig Schöpfung. Da wächst das Ei. Immer wieder. Nach einem Tag ist es fertig. Sie legen es. Dann geht es von vorne los. Jeden Tag. Immer die gleiche Leier. Hühner haben kein Wochenende. Was für ein Leben ist das? War so ein Huhn zufrieden? Sollte es sich unter diesen Freilandbedingungen glücklich schätzen Eier legen zu dürfen? Ich glaube die Hühner sind mit ihrem eigenen Dasein müde.

Okay, ein Huhn legt Eier, weil es das kann. Es ist seine Bestimmung. Sie können es, also tun sie es. Vielleicht gibt es ein paar die ein Musikinstrument spielen können. Oder ein paar talentierte, die andere Sprachen sprechen. Ich habe von Hühnern gehört, die sich für Philosophie, Literatur und Kunst interessieren. Einige gehen sogar handwerklichen Arbeiten nach. Auch sie können Eier legen. Aber sie sind Ausnahmen. Die meisten picken ihre Körner, lassen hin und wieder den Hahn drauf und warten wie die Eier in ihnen wachsen. Jetzt streiken sie. Sie sind es leid. Jedenfalls ein paar von ihnen. Sie wollen Aufmerksamkeit.

(Anmerkung: Ich habe aus Wikipedia etwas über die industrielle Produktion von Hühnereiern gelesen. Die verwenden sogenannte Hybridhühner. Ein Hybridhuhn hat man, wenn meine geflügelten Eltern Geschwister sind, deine auch und wir zusammen vögeln. Das Ergebnis nennt man dann Hybridhuhn. So ein Inzucht-Huhn ist sehr arbeitsam. Bis zu 300 Eier legt so ein Inzucht-Superhuhn pro Jahr. Obwohl wir Eltern schon Inzucht sind, passiert es manchmal, dass etwas Unvorhergesehenes passiert: Beim Ausbrüten sind manchmal Hähne dabei. Zum Glück, finde ich. Aber das ist nur ein Unfall. Hähne sind nicht erwünscht. Die haben nicht viel Glück in der Welt der Freilandhühner: Sie finden keine Verwendung und werden dann ganz human mit CO² vergast. Oder wenn Gas gerade knapp ist, werden sie direkt geschreddert. Weltweit werden so ungefähr 2,5 Milliarden Hähne im Jahr zu Gartendünger gehäckselt. Alleine 40 Millionen in Deutschland.)

Und jetzt das. Keine Eier. Mit verschränkten Armen, riefen die Hühner einen Generalstreik aus. Ich verstand das. Jeden Tag wuchs da etwas in ihnen. Jeden Tag aufs Neue. Mit zusammengekniffenen Augen krempeln sie sich um und starren die Welt an, während die Leibesfrucht  Tag ein, Tag aus die Hintertür aufreißt. Ich glaube, das kann ganz schön anstrengend sein. Zumal sie nicht wissen, ob das dicke Ende schon durch ist oder ob es noch kommt. Das ist doch nicht unwichtig. Wenn dein Dasein dich fast explodieren lässt, willst du doch wissen, ob es schlimmer, oder erträglicher wird.

Bei uns Menschen ist das genauso. Ich kenne das. Meine Beziehungen waren manchmal ähnlich. Ich habe es selber erlebt. Wenn eine Beziehung gut für mich war, dann gab es nichts zu brüten. Nichts, aber auch gar nichts brauchte ich ausbrüten. Wenn mir etwas nicht gefiel, fing es an in mir zu rumoren. Je unzufriedener ich mich fühlte, desto kürzer war die Inkubationszeit. Was nicht funktionierte, brach irgendwann aus und machte sich selber fertig. Diesen Zeitpunkt rechtzeitig zu fühlen, fiel mir schwer. Wenn ich ihn verpasste, versteinerte ich von innen nach außen. Das war ganz schön harte Arbeit, so ein versteinertes System loszuwerden. Viel schlimmer war, dass ich Manche direkt ins Museum bringen musste. Ich habe es erlebt. Wenn wir uns gegenseitig mumifiziert hatten, dann war es aus mit dem Reden. Man verstand sich nicht mehr. Es war gar nicht möglich, mit all den Mullbinden vor dem Mund. Ich musste immer hoffen, dass uns das Museum für lebendige Geschichte annahm. Wenn eine Beziehung schon nicht mehr lebte, sollte man sie wenigstens ausstellten.

Ich habe manchmal gar nicht gemerkt, dass wir uns schon fast fertig eingewickelt hatten. Dass die Beziehung fertig war. Kein Stück. Nicht die Bohne. Gespürt? Wer spürt denn was, wenn er in einer Beziehung ist? Wo kommen wir denn da hin? Niemand merkt etwas. Kaum ein Hybridhuhn. Ich auch nicht, obwohl meine Eltern keine Geschwister sind.

Wenn eine Sache fertig ist, muss sie raus. Sie muss weg. Wenn ein Huhn sein Ei fertig hat, muss es raus. Doch es gibt Hühner die frei sind. Solche, die keine Eier legen brauchen. Irgendwann haben sie sich entschlossen, ein anderes Leben zu leben. Das kostet Mut. Sich von der Masse der Hybridhühner zu entfernen ist gar nicht so einfach. Unter ihnen zu leben, am besten noch mit dem Standard-Hybrid-Hahn, macht sie irre und krank, wenn sie an so einem Hybrid-Leben nicht interessiert sind. Ausbrechen kann helfen. Aber ich glaube, es packt nicht das Übel an der Wurzel. Ich kenne Hühner, die wurden in einen ganz weit entfernten Stall gebracht. Nach einer Weile waren sie im selben Trott. Bei Menschen ist es das Gleiche. Wir nehmen uns überall mit hin. Mir ging es genauso. Als ich nach Hamburg kam, war ich selber ja auch schon da. Selbst in Hamburg wiederholte ich nach wenigen Monaten den gleichen Kram wie auf Mallorca. Ich glaube deshalb, dass es ganz wichtig ist, dass wir zuerst bei uns selber anfangen. Uns ändern, ohne im selben Modell zu bleiben. Der Freilandhof macht krank? Dann geh doch. Geh weg. Fang neu an.

Ein Bauer aus unserem Ort erzählte mir eines Tages die Geschichte von einem besonderen Hybridhuhn. Das lernte einen von diesen Hybrid-Hähnen kennen, für den es keine Verwendung gab. Der Hahn war nicht ganz blöd und hatte keine Lust geschreddert zu werden. Er meldete sich freiwillig, die Hybridhühner ein bisschen glücklicher zu machen. Sein Hauptargument war, dass sie vielleicht mehr Eier gaben. Die Idee kam gut an. Er war gerettet. Erst einmal. Am Anfang fand er das alles ganz toll. Hühner, nichts als Hühner. Sein Traum ging in Erfüllung. War so das Leben? Häcksler oder Paradies?

Doch auch im Paradies wird uns langweilig. Irgendwann war der privilegierte Hahn müde. Jeden Tag die gleiche Leier. Er kam sich vor wie ein Marathonläufer. Eines Morgens war er auf einem Huhn drauf. Sie kannten sich schon länger. Während er so in den Sonnenuntergang ritt sah er, dass ihr Kopf im Takt wippte. So sehr, dass das Nachbarhuhn mitwippte um ihr ins Gesicht zu sehen, weil sie gerade dabei waren, sich über das Wetter zu unterhalten. Da wusste er, dass es Zeit war. Wenn die Drehzahl des Häckslers runterging, kniff er immer die Augen zusammen. Es erinnerte ihn an seine Alternativen. Er wusste, dass das nur passierte wenn die Maschine arbeiten musste. Er dachte manchmal daran, einfach mit reinzuspringen. Die ewige Routine nagte an ihm. Dann sah er sie zwischen all den schielenden Hybridhühnern: Sie hatte diesen offenen Blick. Aus irgendeinem Grund konnte sie die Welt richtig sehen. Da wusste er es: Die, oder Häcksler.

Eines Nachts, sie war wieder mal verzweifelt und dabei die Koffer zu packen, da klopfte er an ihren Stall. Die letzten Male hatte sie ihre Sachen wieder ausgeräumt. Sie hatte jedes Mal gekniffen. Diesmal war alles anders. Vorsichtig klopfte er ein zweites Mal. Sie ließ ihn leise rein und lächelte, als wenn sie auf ihn gewartet hatte. Er bot ihr an, zusammen auf Reisen zu gehen. Er erklärte ihr, dass wenn sie es nicht zusammen machten, würden sie beide Gefahr laufen, ihr Leben zu wiederholen, selbst wenn sie in einem anderen Stall gingen. Stall blieb Stall. Sie verstand. Sie wusste es schon lange. Aber ihre Furcht war immer noch groß. Zum Glück war der Hahn einen Schritt weiter: Er hakte sie unter und nahm sie und den Koffer einfach mit. Ich habe nie wieder von Ihnen gehört. Irgendwie finde ich die Geschichte schön. Ich glaube es geht den beiden sehr gut.

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir alle Brüter sind. Wir brüten ständig Irgendetwas aus. Immerzu. Egal ob wir schlafen, arbeiten oder sonst etwas tun. Oft merke ich gar nicht, dass sich wieder etwas anbahnt. Ich finde das ein bisschen verrückt. Das passierte immer wieder. Vor vielen Jahren hatte ich das mit Charlotte. Nach einiger Zeit merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Ich war ständig krank. Ständig hatte ich Erkältung. Oder irgendetwas anderes. Es war zum Verrücktwerden. Ich war nie krank. Wie konnte das sein? Charlotte war ein Traum von einer Frau. Ich begriff nicht. Unsere Beziehung war mutiert. Sie mutierte zu etwas Unnatürlichem. Etwas, was nicht mehr zu mir passte. Es machte mich schlichtweg krank. Aber ich sah es nicht. Als Alessandra dann kam, wurde das ganze dann beschleunigt. Der Übergang war zwar etwas unschön, aber es war gut so. Wir hatten uns diesmal nicht mumifiziert. Es hatte das Leiden verkürzt. Damals merkte ich schnell, dass Alessandra genau das war, was ich brauchte. Sie war meine Medizin. Sie wusste es. Ich nicht. Ich habe mich lange dagegen gesträubt, bis ich begriff: Ausbruch oder Schredder.

Wälder sind wie Hühner. Bäume wie Eier. Oft habe ich mich ertappt, dass ich mir die Karte eines Waldes angesehen habe, obwohl ich im Selben stand. Ein Bild zu verwenden, um etwas in der wirklichen Welt zu verstehen, ist ungefähr so, wie wenn ich im großen Buch des Lebens, über Selbiges lese, anstelle Meines zu leben. Oft habe ich den einzelnen Baum nicht gesehen, weil ich mit einer Karte vor ihm stand. Man sieht nicht die Wirklichkeit, wenn man auf eine Karte sieht. Wenn ich keine Eier mehr legen will, muss ich etwas anderes machen. Keine Bäume mehr sehen zu wollen heißt, dass ich aus dem Wald raus muss. Wenn ich kein Freilandhuhn mehr sein will, muss ich den Freilandhof verlassen. Es ist fast Kunst einem Wald zu erklären, dass er auch etwas anderes als Wald sein kann. Mit dem Huhn ist es das Gleiche: Um einem Huhn zu helfen das Eier legen sein zu lassen und stattdessen zu malen und Musik zu machen, dafür braucht man Geduld und Liebe. Viele Hühner trauen sich das nicht alleine. Manchmal hilft der unbeugsame Wille eines Hahnes, der dem Schredder entkommen ist. Neuanfang oder Museum.

Ich stand ziemlich lange vor dem Regal. Es fühlte sich an wie Stunden. Bestimmt waren es nur Minuten. Ich wollte nur 6. Ich träumte davon, dass in wenigen Minuten ein einziger Sechserkarton geliefert wurde. Eine Art Abschiedsgeschenk von besonderen Hühnern, die ihre letzten Eier in der langweiligen Umgebung von ständig pickenden und meckernden Freilandhühnern gelegt hatten, zur lieblich-sägenden Musik des nicht müde werden-wollenden Häckslers. Doch dann war ich froh, dass nicht mal diese 6 kamen. Irgendwie hatte ich die Hoffnung, dass wenigstens ein Huhn von einem Hahn auf Entdeckungsreise mitgenommen wurde. Von einem, der dem Schredder entkommen war. Todesangst macht den Verstand klar. Sie fördert unbändige Energie zutage. Genau die Richtige, um mit einem neugierig-entschlossenen Huhn einen Neuanfang zu beginnen.

Das leere Regal gähnte mich an. Ich schaute auf die Informationstafel und las: Freilandeier, von glücklichen Freilandhühnern gelegt. Ich schaute in das leere Eierregal und freute mich.