Gestern habe ich den Weihnachtsmann totgefahren. Gott sei Dank, nur fast. Sonst wäre das Fescht ja ausgefallen. Aus dem Nichts, schoss er aus dem Wald und rannte mit runtergelassener Hose über die Straße, dabei stolperte er und fiel lang hin; gerade noch so, konnte ich ausweichen.
Er schrie wie am Spieß!
Ich dachte, ich hätt‘ ihn erwischt; doch es war der Schock, der ihn schreien und weinen ließ, bestimmt vor Erleichterung, noch nicht in den Himmel zu fahren, obwohl er da her kommt. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich aus dem Auto, „Haben Sie sich was getan…?“, „Ah-ah-au, oh mein Gott, oh mein Gott…!“, als hätt‘ er’n Bein verloren, weil ich drübergefahren bin.
„Sprechen Sie mit mir, können Sie mich hören?“
„Ah-ah-au, buh-huh-uuuuuuu…“, er wimmerte jämmerlich, ich bekam keine Antwort; ich machte mein Licht am Smartphone an; seine Weihnachtsmannhose hing ihm noch unterm Arsch; war der Gute etwa im Wald, um einen Haufen zu machen? Ich leuchtete die Umgebung aus, sah aber nur einen Golf. Sein Wimmern wich erleichtertem Aufseufzen, bei uns beiden.
„Na, Sie sind mir ein Weihnachtsmann!“, lachte ich.
„Wem sagst du das, Bruder; ich bin spät dran und hab mir’n Magen-Darm-Virus eingefangen; kann mir doch vor den Kindern nicht in die Hosen machen; Weihnachtsmann verziert Tapete mit Sprühdurchfall – so eine Schlagzeile kann ich mir nicht leisten!“, ich verstand ihn.
W-Mann ist ein undankbarer Job.
Ich wusste wovon er sprach und half ihm auf. „Kommen Sie, so, bewegen Sie sich mal, ist alles dran, tut ihnen was weh?“, ich war immer noch etwas besorgt, „Wahnsinn, ich habe keine Schramm, Mensch war das knapp…!“, wir gaben uns die Hände und umarmten uns, „Wo müssen Sie hin?“, meine Neugier erwachte.
„In den Nachbarort, Rentiere und Schlitten holen…“
Skeptisch sah ich ihn an, wollte er mich auf den Arm nehmen, oder was; entweder war er wirklich der Weihnachtsmann, und wir alle dachten fälschlicherweise, dass es ihn NICHT gibt, oder er war ein „falscher W-Mann“, der mich auf die Schippe nahm; gab‘s noch ‘ne weitere Möglichkeit? Vielleicht, mir fiel sie jedoch nicht ein.
„Vielen Dank für die schnelle Reaktion – hab ein frohes Fest!“
Schon sprang er in seinen alten Golf2, der, wie ich sah, stark verbeult war; „wenn er ähnlich Auto fuhr wie er Straßen überquert“, dachte ich, wunderte mich nichts. Schon ließ er seinen Motor aufjaulen, als trete er ’ner Katze auf den Schwanz, hupte, winkte und preschte mit quietschenden Reifen davon, bis er hinter der Kuppe verschwand.
Ratlos stand ich im Dunkeln.
Nach einer Weil zuckte ich die Schultern und kratzte mich am Kopf. „Hatten wir noch mal Glück gehabt“, murmelte ich und ließ mich erleichtert ins Auto plumpsen; das fehlte noch, den Weihnachtsmann überfahren, das würde aber einen Shitstorm geben, man gut, dass es so glimpflich abgelaufen ist, murmelte ich zufrieden.
Ich startete den Motor und setzte die Fahrt fort.
Überhaupt, zu was ist das Weihnachtsfest verkommen; ‘ne reine Konsum.- Fress.- und Sauf-Orgie; drei Tage hintereinander überfressen und über’n Durst bechern; ist ‘ne schöne Bescherung, die wir jedes Jahr anrichten. Überhaupt, wie man heute lebt, wofür man Geld ausgibt, wie man isst, trinkt, Sport macht, für alles scheint man einen Profi als Coach zu brauchen.
Alles dreht sich um Maximierung.
Besser und kreativer kochen, mehr leisten, mehr Erfolg haben, dabei aber sportlich, spirituell und ein guter Zuhörer sein; Exzellenz, Bedeutsamkeit als Religion; ich kapier’s nicht; etwas einfach nur so aus der Lameng, aus dem Bauch heraus machen, gar Durchschnitt sein, ist heute – bei Weitem – nicht mehr gut genug.
Alles ist heute Lifestyle.
Wie soll man sich heute durch die vielen Dickichte von TMI, TME & TMA (Too-Much-Information / Expectation & Ambition) durchschlagen, wie soll ich denn Meins kennen, finden, priorisieren? Noch dazu, wenn man arbeitet, verheiratet und Vater / Mutter von Kindern ist? Wie? Ich habe keine Ahnung.
Mein ältester Kumpel wurde 50; nie macht er Wind um sich; so war uns klar, dass wir was im Hintergrund organisieren mussten; so geschah es; Frau und Freunde machten sich Mühe, was mit ‘ner gelungenen Überraschungsparty gekrönt wurde und ‘nen glücklichen Abschluss für Jubilar und Gäste fand; glänzende Augen und Umarmungen sprachen für sich.
Kurz & nüchtern beschrieben, ist die Geschichte hier zu Ende.
Wer sich beim gemütlichen Schmökern meines Blogs entspannen will, hört an dieser Stelle bitte auf; wer hier auf Zerstreuung und Wohlfühlerlebnisse hofft, der schaltet besser den Fernseher ein und schaut was mit Kai, Jörg, Richard und Markus, für die Mädchen, oder, Barbara, Julia, Bärbel und Florian für die Jungs; halt was Vorhersehbares, dass den Wohlfühlknorpel streichelt
und NICHT belastet.
Wer nach dem Trinken eigener Tränen neugierig geblieben ist, der sei herzlich willkommen, der hat sich alleine dafür schon meine Hochachtung verdient; doch Neugier ist‘n launisches Tier; wenn ich‘n Photo meiner Zahnbürste für den Titel wähle, schlafen Allen die Füße ein; wenn ich stattdessen ‘ne blutige Rasierklinge wähl, sieht die Sache – leider – anders aus.
Ab hier also für Neugierige, Welten-Zerstörer, Mütter & Väter.
Was wär, wenn der Rasenmähermann nebst Gattin – ihr erinnert euch, letzte Woche? – Gast auf der 50-Jahr-Party war? Was, wenn mein „Kurzen-Rasen-und-Fußball-liebender-Nachbar“ nicht der einzige seiner Gattung in der Siedlung ist?
Was wär,
wenn von 50 Gästen, die meisten Männer ähnlich sozial verträgliche Leidenschaften ihr Eigen nennen? Was, wenn Freundinnen und Frauen dieser Inseltalente sich ALLE durch Selbstzündung erleuchten müssen – was dann?
Könnte ein Vierzeiler dem Ganzen gerecht werden?
Als mein Kumpel und ich, wie mit‘m geheimem Festtagsgremium verabredet, gegen 18:00 eintreffen, haben sich fünfzig Freunde und Nachbarn versammelt; üblich an Samstagen in Schleswig-Holstein um die Zeit – man hat’n paar Gläser intus, und somit Vorsprung. Nüchtern ist man in SH schon ausgelassen; wie sind die alkoholisiert?
Einfach – unbeschreiblich.
18:30 – erst einmal Lage peilen: Laute Musik, viel Speis und Trank und Gewissheit zu den TOP 10% in Sachen Einkommen zu zählen; läuft doch, oder; noch dazu physisch wie psychisch gesund, was will man mehr; wie wär‘s mit sozialen Kontakten? Geht man in der Woche noch mal flott abends weg? Zum Beispiel auf‘n schnelles Bier mit Kumpels, oder auf‘n Weißwein mit den Mädels?
Keine Ahnung – vermutlich selten.
Der Hamburger Speckgürtel mit Vierteln wie der Siedlung, kann man auch „bewohnte Friedhöfe“ nennen, auf denen wir unsere alarmgeschützte Existenz mit Alkohol, Netflix und Amazon Prime ersaufen; mentale Hygiene und Erleichterung? Bekommen wir nur auf Fußballplätzen und im Urlaub – oder eben – auf Geburtstagparties.
An jenem Abend trug ich schwarz – auch vom Verhalten.
Beichten gab‘s zwar keine, aber die vielen Geschichten, die ’nen Garten voller Kuriositäten erschaffen, reichlich gewässert von Schnäpsen, Grölereien und Schulterklopfen, wirken wie ein Ventil. 19:00 Uhr, erhitzte Gemüter wetzen Messer.
Themen – Politik und Wirtschaft, gewürzt mit Religion.
Fabelhafter Cocktail, denke ich, hatte ich doch selber schon ein paar Gläser Wein drin und schien nicht mehr völlig nüchtern zu sein, wie ich mir ehrlicherweise gestehen muss, dafür aber mit gehöriger Portion Respekt und Selbstkontrolle bewaffnet. Schnell gab‘s Schuldige.
Südeuropa, wer sonst, all‘n voran Fronkreisch.
Parolen wie „diese faulen Schwaine, die sich‘s mit Teutschlands wirtschaftlicher Hängematte gutgehen lassen…“, gehören zu den harmloseren Faktenchecks; man kannte sich aus; ich war umgeben von Experten; man wisse doch wie‘s laufe; auf Chemtrails wartete ich heute vergeblich; überhaupt der Süden, da hat man ein bequemes Leben und streikt dann noch die
Überreste seiner marodierenden Wirtschaft kaputt.
Oft denk ich an diesem Abend ans „Günther-Phänomen“, an die quietschenden Reifen des Notarztes, an feuchtes Gras, an Wohnmobile und Elektro-SUV’s und verstopfte Rasenmäher, Dachrinnen und Toiletten; viel lerne ich über meine Mitmenschen; welch Inspiration; was gibt’s Schöneres, als gemeinsam an der seelischen Pissrinne zu stehen.
Einfach – wundervoll.
20:00 Uhr; ein schriller Schrei nach Rotwein ruft mich auf‘n Plan; als geleaster Franzose befinden weibliche Gäste, dass ich mich auszukennen habe; los Mundschenk – bringe er Rotwein, aber flott-flott; fix ‘nen Strauß Flaschen aufgezogen, um gierige Mäuler zu tränken; der Rote von Kumpel Jean-Marc verdunstet förmlich in den Gläsern.
21:00 – Männerhände klatschen auf Frauenärsche.
20:25 Glas geht zu Bruch; Musik wird lauter und schneller; man ist bei Elektro angekommen; auch der letzte Mann wechselt auf Havanna-Club-Cola und Gin-Tonic; Frauen beharren auf Wein, neuerdings Roten; Gespräche über Firmen, Menschen, Arbeit und Exfrauen.
Unmöglicher Balance-Akt des Lebens.
Quadratur-des-Kreises; ‘ne Scheißhausmischung von Surrealität und Paradoxien wie Holzeisenbahn, Gesundheitsversorgung, Zwangsverstaatlichung und Bananenbieger. 22:00 – man lacht lauter und rauer.
Ne zweite Buffet-Welle lässt Berge entstehen,
dass der schiefe Turm von Pisa dagegen verblasst; ich denk‘ an Reinhards Song „Schlacht am kalten Büffet“; haben die schon wieder Hunger? Offensichtlich. 22:30 – vorm Klo stehen Frauen Wache, obwohl drinnen ein Schlüssel steckt; 23:00 man schafft Platz, räumt Tische und Bänke weg; Menschen tanzen.
23:30 – muss sitzen, denk ich, also raus auf ‘ne Holzbank.
Endlich weniger Krach; ich schenke Wein nach; Jean-Marc ist ausgetrunken; ein Italiener blendet mich erfolgreich; gerade nipp‘ ich am Glas und denk‘ an Apulien, wo der Tropfen herkommen soll, obwohl er nach
Ahr und Spülmittel schmeckt
als Xerxes und Leonidas mir gegenüber Platz nehmen; ernst und gründlich, spült Leonidas sein‘ Rachen und futtert Salzstangen, um den Itakker gebührend zu kosten. 23:32 – Xerxes lacht schallend laut.
„Völlig sinnlos, außer Don schmeckt hier niemand mehr was…“
Sofort denk ich ans schwarze Loch von Sparta, in den Leonidas im Film „300“ den persischen Kurier hineinbittet; wie‘s heute wohl ausgeht; Xerxes hat‘n ansehnliches Alkohol-Level erreicht, zum Rasenmähermann-Club gehört er nicht.
Leonidas fühlt sich gut,
will / kann aber den ausgeteilten Schwinger an alle nicht stehenlassen; „Du meinst also, dass ich keine Ahnung von…“, Xerxes unterbricht feudal, „Hör doch auf mit dem Scheiß; gar nix schmeckst du; wir können Weine mischen und du würdest nix merken; wir sind alle besoffen…“
Fehdehandschuhe in frisch gemähtem Rasen.
Frieden ist ‘ne komische Sache, so wie Neugier und Gesundheit; man vermisst sie, wenn sie nicht da sind; ich höre Leonidas‘ kämpferische Natur schon zum Angriff schreien „DAS ist Sparta!“ Er wechselt das Wortregister; „Lass uns das beenden und einen schönen Abend haben…“, Xerxes ganz angestachelt, „Was redest du fürn Scheiß? Willst du mich hier etwa als den Bösen….“, Kriege beginnen mit Halbsätzen, denke ich.
23:45 – ziehe mir das Kettenhemd an.
Leonidas rasselt mit dem Schwert; „Langsam gehst du mir auf den Wecker; bis eben war der Abend nett und jetzt wirst du echt….“, Öl löscht am Besten das Feuer, denkt Xerxes „Willst du mich dafür verantwortlich machen? Hör mal wie du mit mir redest…“, Siedepunkt erreicht; bin gespannt, ob Leonidas sich beherrscht, oder sein Schwert für Nichtigkeiten einsetzt.
23:50 – für Sekunden sehen sich die Kontrahenten in die Augen,
sogar auf der Holzbank rutscht man auf Abstand; schlechtes Zeichen; bin sprungbereit, um auf Abstand zu gehen; außer Plastikgabel und Worte trage ich keine Waffen; Leonidas richtet sich feierlich auf; „Sorry, ich gehe; sonst haue ich den Penner hier um…!“, ausgesprochene Drohung, aber er hat die Vernunft siegen lassen – Hut ab.
23:55 – Leonidas ist weg.
Jetzt knöpft der gute Xerxes mich vor; streue verloren aussehende Argumente zur Verschönerung; Xerxes ist nur noch im Sendemodus; gibt noch erstaunlich fiel Unausgesprochenes zu reden; hinter uns beginnt die Nebelmaschine ihr Werk; ein Dutzend Menschen hotten zu Techno ab.
Xerxes lässt nicht locker.
Wortgewaltig donnert er vom Thron herab; „Scheiße, macht ihr mich hier jetzt zum Buhmann? Kann’s nicht glauben, was für‘ne Frechheit; soll dieser Leonidas ruhig wiederkommen, dann kriegt er eine Abreibung, wie er sie noch nie im Leben….“, ich wechsle das Thema, mal schauen, ob das klappt, „Unabhängig von Vielfalt und Allem, schmeckt dir der Wein…?“
Stille – Xerxes grübelt.
Gebannt warte ich auf ‘ne Reaktion, als plötzlich seine Königin am Horizont erscheint und ihn am Schlafittchen packt; wortlos erhebt er sich; feuert ein paar donnernde Blicke auf mich ab; „darüber reden wir noch; ist ne Schweinerei, mich als Bösen abzubügeln!“ Denke wieder an nassen Rasen, der den Nachbarn nicht abhielt, zu tun, was unbedingt zu tun war, obwohl die Natur mit Zaunpfählen winkte.
00:30 – Gäste machen‘s Xerxes und seiner Königin gleich.
Man verabschiedet sich; 6,5h können lang sein, wenn man schnell trinkt und isst; unendliche Weiten können‘s werden, wenn man vom Haben, statt vom Sein redet; avoir et être; zwei Wochen brauche ich um die Party zu verdauen; natürlich kann ich‘n Buch darüber schreiben.
Aber über was denn noch alles?
Antworten habe ich doch auch keine, stattdessen Fragen & Hoffnung, sowie den unbeugsamen Willen NICHT, NIEMALS auf keinen Fall aufzugeben, was auch immer passiert; wir sollten öfter zusammenkommen, vor allen mit Menschen die anders sind als wir selbst; gibt sonst zu wenig Impulse und Inspiration.
Ob ich was vermisse in Frankreich, fragte Xerxes.
Hamburger Kneipen zum Beispiel; in Frankreich gibt’s dafür Bars und Bistros; natürlich ist das Nachtleben anders, aber deswegen bin ich ja da; die Siedlung braucht dringend eins von Beidem; zuhause sitzen macht einsam und unglücklich; manchmal sogar traurig und depressiv, wie Ronja von Rönne und Kurt Krömer schreiben.
Ellenbogenmenschen finde ich anstrengend.
Egal in welchem Land, egal in welcher Sprache; Gemeinsinn scheint heute schwierig, Solidarität auch; Neugier zu kultivieren und pflegen genauso; ich glaube Krieg trägt man vor Allem in sich; kommt er jemals von außen; keine Ahnung; natürlich hat man ’ne Wahl, abgesehen von Angegriffenen; das antike Sparta hielt es mit der Weisheit
„Willst du Frieden, sei bereit für Krieg!“
Seit 2500 Jahren gibt‘s das antike Sparta nicht mehr; Kriege schon; Leonidas hatte die Wahl und zog sich zurück; ein Grund zur Hoffnung, wie ich finde; liegt vielleicht am Charakter und Umgang mit Reichtum; je mehr man besitzt, desto mehr muss man schützen; Menschen zählen nicht dazu; man besitzt sie nicht, auch wenn Manche anderer Ansicht sind.
Menschen gehören ausschließlich und exklusiv nur sich selbst.
„Was ist dir das Wichtigste im Leben?“, fragt Leonidas; ich antworte, „Lebenszeit! Je weniger Eigentum & Besitz ich habe, desto weniger Gedanken mache ich mir dann darüber und desto mehr Zeit ist für Menschen da, mich selbst eingeschlossen“ Kneipen & Bistros sind in Zentraleuropa zwar keine Kirchen,
aber je länger ich drüber nachdenke – eigentlich doch!
9/11 erinnert jeder. Besonders die Bilder. Wie’n Hollywood-Film. Nicht ganz ernst zu nehmen, aber – beeindruckend. Nur war diesmal alles „echt“, allerding ohne Tom Cruise und Mel Gibson. Stunden blieb ich in Aufruhr. Ich glaube es war Ulli Wickert, der in‘ner Sondersendung davon berichtete. Gerade machte ich Besorgungen in Ahrensburg.
Einfach unglaublich, dachte ich!
Ich zog meine Freundin am Ärmel, „Warte Süße – schau mal!“, „Was denn?“, ich zog stärker, „Na, der Wickert da – schau mal die Bilder!“. Mit offenem Mund standen wir vor riesigen Bildschirmen der Elektronik-Abteilung von Nessler Ahrensburg.
Doch da stecke viel mehr dahinter, als ich zuerst begriff.
Im Nachhinein erschütterte es mich ähnlich, wie der 24.Februar 2022. Beide Events sind nicht vergleichbar und doch sind sie es, weil beide für mich als unvorstellbar und unwünschbar galten. Ist wie mit uns Menschen. Jeder ist ein Niemand und doch hat jeder moralische Pflichten, sein Menschenmöglichstes zu tun.
Wer / Was sonst?
Mit RU ging’s mir ähnlich, und doch ging ich leichter darüber hinweg. Liegt am Alter. Man hat mehr Bücher gelesen und mehr erlebt. Man wundert sich und doch tut man es überhaupt nicht. Menschen sind zu Allem fähig.
Wie mein damaliger Nachbar.
Nie werde ich vergessen, wie er bei dreißig Grad im Schatten mit Gasbuddel und Flammenwerfer das Unkraut seiner Auffahrt verbrannte. Einzelne Teil-Elemente, dieses menschlichen Gesamt-Kunstwerkes sind bereits ikonenhaft.
Als er dabei aus Versehen unsere Grenzhecke
niederbrannte und die Flammen auf den benachbarten Wald überschlugen, dass unsere Feuerwehr zum Großeinsatz ausrückte, ließ mich staunen. Gewundert hat’s mich aber nicht. Wochen später klingelte er an der Tür. Er schlug vor, ‘ne neue Hecke zu pflanzen und die Kosten aufzuteilen. Ich fand die Idee super.
Meine Freundin – begrenzt.
Wir saßen am Abendbrottisch, als es an der Tür klingelte. „Schatz, gehst du?“, wie immer, „Gerne, Süße!“. Ich öffnete die Tür mit einer weit ausholenden Geste. Freudestrahlend stand da unser Firestarter. „N’abend Günther, wie geht’s dir?“ Ich roch seine Bierfahne. Manchmal lud er zum Jever ein, rief dann über’n Zaun. Wir quatschten Stunden.
„Ja-ja, danke – und selbst?“
Ihn interessierte es wirklich. Ich sah nach hinten und lächelte ihn offen an, „Muss ja, kennst ’es ja…“ Er verstand meinen Humor, den ich einsetzte, um Eis und Formalien zu brechen. Seine Haare erinnerten an Lex Barker in grau, seine Figur eher nicht. Seine an den Knien ausgebeulte Jeans nutzte er im Garten, die seinen verjährten Leistenbruch unübersehbar präsentierte.
Seit Jahren ging das schon so.
Langsam schoben sich Bauch und Gemächt unterm Gürtel hindurch, das es aussah, als hätte er Hosentaschen und Unterhose mit Murmeln und einer nicht mehr ganz erntefrischen Karotte bis zum Bersten gefüllt. Seine erdverkrusteten Hände blieben auch nach Minuten gekrümmt, als hätte er eben gerade seine zwölft geliebten Trompetenbäume umgetopft.
„Sag mal, wollen wir ‘ne neue Hecke pflanzen?“
Wunderbar, wie immer ohne Umschweife. Mittlerweile hatte ich mich an die abgebrannten Stubben und die restlichen traurigen Überreste gewöhnt. Irgendwie hatte das was. So wie die Nikolai-Kirche, die aussieht, als wäre sie erst gestern verbrannt. Ich kratzte mein Kinn, runzelte die Stirn und nickte ernst, um neutrale Offenheit zu signalisieren. „Hm, klingt ganz vernünftig“, gab ich ehrlich zurück.
Günther lebte alleine in seinem großen Haus.
Sein Garten hatte ’nen eigenen Wald, den er mit uns teilte und eine lange, wunderschön gewundene Auffahrt. Ständig war er zu Gange. Wenn er nicht auf sei‘m Traktor saß, Holz hackte, Bäume pflanzte, sein Haus renovierte oder einen Großbrand verursachte, saß er vorm Fernseher und trank abwechselnd Bier und Remy Martin. Zwei Söhne hatte er gezeugt. „Beides Nieten!“, sagte er gerne. „Reisen rum und verprassen meine Kohle!“
Günther wollte Opa werden.
„Ihr könnt ja mal drüber nachdenken und wir schnacken die Tage, okay?“ Ich mochte seinen Vorschlag. Auch die Art, wie er ihn vortrug. Immer ließ er Raum, um sein Gesicht zu wahren und genug Zeit sich Gedanken zu machen. Diskretion und Höflichkeit waren ihm wichtig.
Ich mochte Günther.
Leise schloss ich die Tür und ging zurück zum Tisch, wo meine Freundin mit den Fingern trommelte. „Und? Was wollte er…? Wunderbar, wie immer ohne Umschweife. „Günther schlägt vor, dass wir ‘ne neue Hecke pflanzen…“, sagte ich und blickte schuldig auf den Teller vor mir. Es würde ein langer Abend werden. „Schön, dass er das einsieht; ich habe wenig Lust mir noch länger dies verkohlte Skelett anzuschauen…!“
Ich gab mir einen Ruck.
Nun kam der schwere Teil. „Günther schlägt vor, dass wir uns die Kosten teilen.“ Was nutzte es, länger drumrumzureden? Indirekte Ansprache mochte sie nicht besonders. Endlich war es raus. Schon zogen dunkle Wolken auf. Langsam senkte sie den Kopf, wie ein Stier der einen auf die Hörner nehmen will.
Dabei ist sie Jungfrau.
Schon zogen sich die Augenbrauen zusammen und bildeten ein stolzes Vau. Ihre Mundwinkel sanken weit hinunter und zuckten unruhig. Lange konnte es nicht mehr dauern. Als ihre Hände sich am Kopfende abstützten war es soweit.
„Was? Ist Günter nicht ganz bei Trost?“, ich ahnte es.
Sie war nicht überzeugt. Es ging weiter. „Erst verbrennt er sie, beinahe samt seiner Reetdachvilla und unserem gemeinsam Wald – was nur deswegen verhindert wurde, weil wir ihm mit Gartenschläuchen halfen – und jetzt will er eine neue pflanzen,
die WIR mitbezahlen?“
Beim „wir“ zuckte ich zusammen. Sie fauchte förmlich. Das konnte was werden. Ich dachte an Henry Kissinger und Helmut Schmidt. An Franz-Joseph Strauss und Herbert Wehner. Wie schafften die es zusammenzukommen? „Was hast du dem Traumtänzer geantwortet…?“ Wunderbar! Schöne Abkürzung, dachte ich. „Nun….“, ich suchte meine Worte zusammen, „Ja, ich höre..?“, sie konnte eine Kreissäge sein. „Nun, ich fand seinen Vorschlag ganz vernünftig; schau mal, wenn er die Hecke…“
Weiter kam ich nicht.
Schon rollte ein Tsunami an. „Wir zahlen keinen Pfennig, damit das klar ist!“ Sie war die geborene Diplomatin. „Magst du Günther…?“ Ich wollte ihr helfen sich wieder abzukühlen. „Was soll DIE Frage denn jetzt?“ Ich setzte nach. „Wir haben doch ‘ne tolle Nachbarschaft mit ihm…“ Sein Möglichstes sollte man immer versuchen, dachte ich. Meine Feststellung sollte sie einladen, die Straßenseite zu wechseln.
Mal schauen, dachte ich.
„Natürlich, Gott sei Dank, warum kommst du jetzt damit…?“ Sie begann sich neu zu erhitzen. „Schau, Süße…“ Sie zeigte ihre Kralle,n „komm mir nicht mit Süße!“, eigentlich ist meine Freundin ganz anders, sie hat nur wenig Möglichkeit es zu zeigen. „Wir können doch erst mal abwarten, was rauskommt; wegen 300 Ocken eine freundschaftliche Nachbarschaft zu gefährden fände ich ziemlich unklug, meinst du nicht?“
Endlich! Das saß.
Sie kaute einige Zeit drauf rum. Waren ihre rauchenden Colts leergeschossen? Noch schien die Gefahr nicht gebannt zu sein. Man brauchte Geduld mit ‘nem Cowgirl. Ihre Gesichtszüge wurden weicher. Langsam schob ich ein vorsichtiges Lächeln über mein Gesicht. Sie kniff ihre Augen zusammen. Ein Anflug Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Manchmal bringst du mich WIRKLICH aus der Fassung…“
Das hatte ich schon mal gehört. Aus ihrem Mund klang es schön. Fassung verlieren, ist was Angenehmes. Nach den richtigen Worten suchend, legte ich mir ein paar Gesichtszüge zurecht, die nicht zu frech, aber auch nicht zu unverbindlich aussahen. „Es scheint mittelfristig, insbesondere von den Auswirkungen, sehr angenehm und positiv zu sein…“
Augenzwinkernd stand ich vom Tisch auf und schenkte Wein nach…
Langsam öffne ich die Augen. Nach und nach kommen Farben und Formen. Mein Schädel brummt. Züge voller Erinnerungen brausen mir durch den Kopf. Wo bin ich? Immer noch in der Irrenanstalt? Ängstlich setze ich mich auf und sehe mich um. Ich scheine in meiner Wohnung zu sein.
Hab ich das alles – nur geträumt?
Die Zwangsjacke, der Gendarm, die Herren in weiß – alles nur ein Traum? Vorsichtig gehe ich die Treppe runter, schleiche ins Bad und knipse das Licht an. Gott sei Dank ist die geplatzte Scheibe da. Erleichterung macht sich breit, laute Seufzer folgen. Ich schmunzle in mich hinein.
Noch mal Glück gehabt!
Ich schaue aus dem Fenster, wie spät ist es? Mein Smartphone greifend, schaue ich auf die Anzeige – 08:15. Schon wieder ‘ne Schnapszahl, denk ich mir. Ein dreckiges Dutzend pop-up Nachrichten flimmern über den Touchscreen des S-fons. Verärgert leise vor mich hin knurrend wische ich alle weg. Es lodert überall.
Feuer in Europa.
Wälder brennen, Regierungen wie Italien, Russland, Ukraine, Taiwan, China und die USA; Inflationen lassen Preise wie Pilze sprießen; die einen schreien nach Beistand, die anderen flüchten. Nur die Eliten retten den Planeten mit elektrischen Autos und Fahrrädern, Biofutter und Diversity.
Frankreich hat 58 Atomkraftwerke.
Angeblich sind 50% nicht am Netz. Deutschland will seine A-Meiler still-legen, schafft es aber trotzdem Strom nach Frankreich zu liefern. Unsere Welt ist völlig verdreht. Noch dazu erscheint das Meiste absurd zu sein. Doch Moment mal:
Nach Albert Camus – IST – die Welt absurd.
Oder meinte er das menschliche Leben? Natürlich ist‘s nicht das Gleiche. Aber in Wahrheit ist es das – DOCH! Man kann das mathematisch nachweisen. Wenn ich Sinn gleichsetze mit allen Zahlen größer Null, dann folgt daraus, dass Null die Zahl für „Sinn-los“ ist. Alles mit Null multipliziert ergibt – Null.
Natürlich ist dieser Vergleich an den Haaren herbeigezogen.
Aber nicht mehr, als das was ich zurzeit in der Welt beobachte – UND – vermutlich weniger, als jenes vom Latschenträger und jenem haarsträubende Märchen, vom unendlichen Wirtschaftswachstum, an das Ökonomen und Wirtschaftswissenschaftler noch immer – GLAUBEN.
Was ist – FORTSCHRITT?
Interessiert das jemanden? Ich meine im Ernst – auch in meinem Umfeld gibt es einige Menschen, die sich weder für Politik, Wirtschaft noch Umweltschutz interessieren. Von Energie.- und Geldsparen und systematischer Reduzierung, zum Beispiel in Sachen Wohnraum, Fuhrpark usw. ganz zu schweigen. Hier das Zitat eines guten Freundes.
„Die Welt ist mir scheißegal, Hauptsache mir geht’s gut!“
Da weiß man doch, was man hat – guten Abend! Es muss einen Weg geben eine absurde Welt zu einer Besseren zu machen. Schon mein Leben lang befürchte ich, dass Logik, Vernunft und Verstand weder richtige Wege aufzeigen, noch Menschen einladen neue Verhaltensweisen im Alltag auszuprobieren. Vielleicht klappt das nur mit Satire, Kunst und allen möglichen Formen der Provokation.
Vielleicht so:
Obdachlose Männer und Frauen werden Models für‘n Prêt-à-porter in Paris; Behinderte präsentieren das Wetter und werden Nachrichtensprecher*innen; Flüchtlinge machen Werbung für faschistische Parteien.
Dicke Menschen für Diäten.
Dünne für Fastfood; alte Menschen machen Werbung für Särge und Tierfutter. Patriarch Kyrill macht Werbung für Kalaschnikow; der Papst wirbt für den Islam, inklusive Beschneidung. Ungeahnte Möglichkeiten, um für Fortschritt zu werben.