Archiv für den Monat: August 2018

Herausragendes Mitglied der Gesellschaft

Friedrich wohnte in Hamburg und hatte sein Abitur ohne Ehrenrunde gemacht. Schnell wusste er, dass er alles Mögliche sein wollte, nur kein gewöhnlicher Mensch. Auch Wehr.- oder Zivildienst war nichts für ihn. „Sich von Primitiven anschreien, oder als Zivi Hinterteile abwischen? Das geht gar nicht!“, waren seine Worte. Er spielte den Rückenkranken, bekam Tauglichkeitsstufe-5 und war frei.

Nach dem Abitur ging es direkt an die Universität. Dort glänzte er mit Neugier und Hilfsbereitschaft, besonders gegenüber Professoren. Seine Karriere begann er dann erwartungsgemäß als Executive-Assistent eines CEO. Nur wenige Jahre später stieg er zum Abteilungs.- und bald zum Hauptabteilungsleiter für Finanzen auf. Die oberen Führungskreise waren immer auf der Suche nach engagierten Potenzialträgern, Friedrich kam in ein Förderprogramm und lernte einflussreiche Manager kennen.

Dank seiner starken Ausrichtung nach oben hatte Friedrich einen guten Riecher für die Bedürfnisse der Vorstandsebene und wurde bald Finanzvorstand. Eindrucksvoll machte er auf sich aufmerksam, bis er mit Anfang vierzig zum CEO ernannt wurde. Endlich war Friedrich am Ziel. Doch er wollte mehr. Niemand konnte Bilanzen und ihre Transaktionen so geschickt auslegen, wie er. „Zahlen im allgemeinen waren immer eine Frage des Blickwinkels!“, philosophierte er gerne bei ausreichend Publikum.

Und wahrhaftig, die Zahlen sahen tadellos aus. Die Firma war rentabel und erfolgreich. Ein paar Jahre später brachte er das Unternehmen dann mit großem Erfolg an die Börse. Er trat selbst in Werbungen auf und warb mit Überzeugung für seine Volks-Aktie. Und die Menschen kauften wie warme Semmeln. Friedrich war jetzt nicht nur einflussreich und mächtig, sondern auch sehr reich.

Irgendwann gab es dann kritische Berichte in den Medien. Man fing an seine Methoden, sowie Art und Weise des Börsenganges zu hinterfragen. Schnell war von Bestechung die Rede. Zahlen und Bilanzen wurden in Frage gestellt. Bald sprachen die Medien von Betrug und Volksverrat. Bald brachen die Kurse weg. Friedrichs Marketing-Offensive hatte zwar dutzende Milliarden aus dem Nichts erschaffen, doch wie alle Strohfeuer, erloschen sie genauso schnell, wie sie wuchsen. Nach wenigen Jahren waren die Milliarden wieder vernichtet.

Eines schönen Abends kam Friedrich aus dem Bad und machte sich auf den Weg in seinen Ankleideraum, als er mitten im Lauf stehenblieb und innehielt: Ein merkwürdiger Geruch lag in der Luft. Er konnte ihn nicht einordnen, schon gar nicht die Richtung aus der er kam. Plötzlich fuhr Friedrich blitzartig herum und erschrak! Ein älterer, mittelgroßer grauhaariger Mann, vielleicht kurz vorm Rentenalter stand da im Flur. „Verlassen sie sofort mein Haus! Oder ich ruf die Polizei…!“, schrie Friedrich und sah den Gegenstand in der Hand des Alten, der die Quelle des merkwürdigen Geruchs war. Eine frisch geölte doppelläufige Schrotflinte.

Wortlos stand der Mann mitten im Raum. Friedrich dachte an Flucht oder Hilfe und griff reflektorisch zu seinem Smartphone, dass er in seinem schweren Bademantel bei sich trug. Doch er hatte den Alten unterschätzt. Schnell wie eine Katze glitt er auf Friedrich zu und schlug ihm den Gewehrkolben mit lautem Krachen ins Gesicht. Schwer getroffen sackte Friedrich zusammen, wobei er unkontrolliert nach Halt suchte und laut klirrend und scheppernd, die rechts von ihm stehenden Gläser samt Designertablett vom Tisch riss. „Hochmut kommt vor dem Fall!“, rief der Alte mit bebender Stimme.

Schwer getroffen, mit schwer blutender Platzwunde und gebrochener Nase, kam Friedrich stark schnaufend hoch, schaute den Schläger entsetzt an und ging wie in Trance auf den Alten zu, so als ob er eine Erklärung, eine Antwort für diesen Albtraum zu bekommen erhoffte. Blitzschnell traf ihn ein zweiter harter Hieb in die Magengrube, der ihn mit scharfem Pfeifen, wie ein Taschenmesser zusammen-klappen und zu Boden gehen ließ. Friedrich blieb lange liegen und kam erst nach dutzenden, grausig-stillen Sekunden auf die Knie und verharrte in dieser Stellung, wobei er den Kopf langsam anhob, um dem Alten in die Augen zu sehen.

Zorn ließ diesen beben, als er sprach: „Sie haben Allen geraten ihre Aktie zu kaufen. Wir alle haben Ihnen vertraut, auch meine Frau und ich. All unser Geld haben wir in ihre Aktien investiert, um uns im Alter abzusichern. Jetzt ist die Aktie nichts mehr wert und all unser Geld weg! Wir haben vierzig Jahre dafür geschuftet und jetzt ist alles futsch!“ Instinktiv wusste Friedrich, dass er jetzt schweigen musste, wenn er nicht einen dritten Hieb riskieren wollte.

„Zuerst war unser Geld weg“, setzte der Alte fort, „und dann brach es uns das Herz! Meine Frau bekam wenige Monate später Krebs – sie starb mir innerhalb eines Monats einfach weg, nach über dreißig gemeinsamen Jahren und wissen sie was? Irgendwann fing auch ich an, über Rückenschmerzen zu klagen. Die Ärzte stellten Lymphdrüsenkrebs fest, im Endstadium. Ich habe noch ein halbes verschissenes Jahr zu leben und das alles, weil wir ihnen vertrauten und ihre Aktie kauften! Was meinen sie wie sich das anfühlt, wenn man alles verliert? Was meinen sie wie das ist?“, schrie der Alte. Friedrich machte ein trauriges Gesicht als er mit den Achseln zuckte. „Sie wissen es nicht?“, schrie der Alte erneut. „Das glaube ich ihnen sogar! Solche gewöhnlichen Dinge können sie gar nicht kennen. Aber ich kann sie beruhigen – ich werde ihnen zeigen, was Verlust und Schmerz bedeutet!“, versprach der Alte.

Friedrich überlegte angestrengt. Er fing an, über seinen Besitz von Autos und Villen nachzudenken. Bekam er jetzt einen Denkzettel? Aus seiner Sicht hatte er den bereits, so brutal der Alte ihn zusammengeschlagen hatte. Was Friedrich nicht wusste: Der rüstige Herr war früher Hausmeister und bekannt für Ordnung und Zuverlässigkeit. Auch er war kein Freund von Worten und liebte die Tat. Plötzlich fuhr der Alte Friedrich mit tränenerstickter Stimme schluchzend an: „Wie können Sie uns alle betrügen und ungestraft davonkommen?“, Friedrich konnte nur sehr langsam antworten, da ihm die Hiebe noch arg zusetzten. Doch er konnte nicht ganz verhindern, dass er den Alten mitleidig anlächelte.

„Was wollen Sie von mir? Gerechtigkeit? Es gibt keine Gerechtigkeit. Sie haben sich entschieden Aktien zu kaufen. Wollen Sie mich für ihre Entscheidung verantwortlich machen? Wenn Sie eine Aktie erwerben, dann sind sie derjenige der bestimmt, wann sie die kaufen und verkaufen. Sie können nicht die Verantwortung bei Anderen suchen. Das ist freie Marktwirtschaft. Das ist der Preis in einem demokratischen Staat zu leben. Es hat Vorteile, aber auch Nachteile.“

„Du hast völlig recht, du mieses Schwein!“, sagte der Alte in ernstem Ton. Das war sie, Friedrichs Chance. „Sie wollen mir doch gar nichts tun, es geht Ihnen um Geld. Ich kann ihnen 250.000.- Euro in bar geben!“, schlug Friedrich vor und dachte angestrengt über den Aufbewahrungsort nach, während der Alte den Lauf seiner doppelläufigen Schrotflinte an seinen Kopf hielt.

Unwirklich laut klang der Schuss der die Stille zerriss. Der Anblick all der vielen Schädelteile, dem Gehirn und dem vielen dunkelroten Blut ließ den Alten erstarren. Als er Alte die Flinte lud und sich die Mündung in den Mund steckte, zischte es leise. „Scheiße!“, fluchte der Alte.

Ruhig und gelöst, wie ein Metronom nahm der Alte ein wenig Spucke und kühlte die noch heiße Mündung provisorisch ab, bevor er sich die Flinte erneut in den Mund steckte. „Weiß sowieso kein Schwein was er wählen soll.“, dachte der Alte, während er über die bevorstehende Wahl nachdachte und abdrückte.

Königsinsel Melancholie

Nasser Sand grub meine Füße ein – leichter Wind zog seufzend an mir vorbei, ein paar Haarsträhnen hinterherziehend, als wären sie leicht zu überreden. Salzige Luft klammerte sich an meine Nase, verklebte Haare zur Schale; seichte Wolken luden Himmelblaues ein zu leuchten; Sonne wärmte meine Haut, lud sie ein zu lächeln; rauschend legte sich das Meer in meine Ohren; Wellen rollten rhythmisch an den Strand, rissen, zogen Steine klöternd zurück ins Meer; Schaumkronen tänzelten auf Poseidons metallisch-glänzender Haut; Möwen trieben auf nassen Laken rum; Augen suchen Horizonte nach Weite ab; Gedanken perlen herab, vorbei an meinen Wangen, tropfen ungehört in den Sand, vom Meer hinfort gerissen. Melancholie, würdest du doch nie entschwinden – stattdessen lang verweilen als schönste Zeit und mich streicheln, als wäre ich ein ewiges Geschöpf.

Nun ist mein Tag müde und neigt sich dem Ende zu – ich lasse alles sausen, was ich nicht brauche – fühle mich gut wenig sortieren und behüten zu müssen – keine Bedürfnisse mehr – kann jetzt mich kümmern um‘s Recken und Strecken, Füße in Sand stecken – dann und wann Wind schmecken, Sonne riechen und Meer sehen – zu viel Unsinn wurd getan – wenig Wahrhaftiges

Lazazrus und der Thron

Ölig-zäh wie trauriger Harz liefst du mir den Rücken herunter – zogst mir die Haut in feinen Streifen ab, liefst erst hinauf, dann niederträchtig meinen gebeugten Rücken hinunter – der langsam, ganz langsam ganz krumm geworden vom Weg-schauen, als hättest du alle Weltenzeit,

dein schmieriger Glanz, der durchdringen will jede Ritze, jede Kammer, verspeisen jede Pore – dein Hunger, gewaltig wie die Unendlichkeit der Nacht, die uns überzieht des Abends, schwer, erdrückend, alles Lebendige aus uns herausquetschend, bis wir leer und matt vorm Trog der Schöpfung liegen,

giftige Anmaßung, ja die Deinige, die mich betäubt, meine Gebeine lähmt – will zersetzen mein Fleisch, meinen Geist – will verspeisen meine Seele, weil nicht kaufen du sie kannst,

kalt dein Strahlen, verlockend weit es scheint, weil gebaut du hast dich selbst – höher, immer höher, das weit wir sehen dein Licht, das verschlingen will alles, wahrlich alles,

verlockend du verdrehst unseren Kopf, rufst am Anfang leise, näher wir dir gekommen, immer lauter, bis wir kaum noch hören, das Rauschen des Wassers, die singenden Vögel, den brausenden Wind, der Bäume schüttelnd die Welt regiert,

alles du ziehst in deinen Bann – alle blind dir folgen, sie gerufen du hast in all den Jahren, die glücklich sich fühlen in deiner Versklavung – blind wie du, am Ende sich selbst verschlingende, wenn gefressen wurde alles mit Haut und Haaren, jeder Stein, jeder Baum, wenn gefällt du hast alles, weil unsere Gier uns blind macht Herz und Seele,

wenn wir verlassen unser Selbst – alles – bis wir sitzen alleine auf goldenem Gestühl, das uns zu hoffen glaubt, angekommen am Ziel, was niemals wir gesucht, erkennend, wir dich gewähren ließen, den Unhold, der zertrampelte unsere zarten Pflanzen im Garten unseres kleinen Lebens,

gebleckte Zähne wir zeigen, wenn wir sitzen auf dir – argwöhnisch hockend, wie ein verschlagendes Tier, wie ein Monster aus der Unterwelt, das verspeisen will alles Lebendige, das nicht merkt, das befallen es ist vom schaurigsten Leiden,

wenn gewandelt sich hat unser Selbst, wenn beschützen wir wollen, was uns nie gehört, erschwindelt, erlogen, zusammengegaunert auf dem Rücken der Leidenden, die gearbeitet im Schweiße ihres Angesichts, bis gezahlt wir sie haben, schäbig und billig, wie wir nun mal sind,

wenn wir glauben Gnade walten zu lassen, als wären wir selbst das Licht, wenn wir erkennen, doch meist zu spät, dass abkehren wir uns müssen, von dir, das alles Überstrahlende, weil sehen wir nur können im Schatten, verstehen das Vergangene, wenn erkennen wir uns selber, dass wir den warmen Glanz – du nur den Kalten in dir trägst,

wenn gemacht du hast alles aus Gold, Silber und Platin – wenn Seide, Feingewebtes uns umspannt, uns glauben lässt, das schöne Kleider, goldene Paläste, uns zu Leuten, Bürgern, gar Menschen werden lassen, merkt auch der Letzte, das verkauft er hat sein Leben,

verstanden haben die Armen die Gesetze der Menschlichkeit – wenn unsere Körper sich regen, wenn aufmachen wir uns müssen, um auszuwechseln unser Selbst, wenn wir suchen den Einen, den alle brauchen, wenn wir sind gleich, still, ruhig und bei uns, alleine, ohne Maske, wenn unser Körper spricht und wir lauschen, was uns sonst nur vergönnt am Anfang vom Jetzt und Wiedergeburt, dann wir für kurze Zeit ihn in uns tragen den Schlüssel zum Allverständnis – bis wir unbemerkt von unserem Selbst bemerken, das weggehängt wir ihn haben.

werde weiter dich meiden, mehr als je zuvor – Acht geben, das draußen du bleibst, sei ich auch der letzte Idealist, bevor du klopfst an meiner Tür mit glitzerndem Geschenk, das entpuppen sich wird, als Rettungsring aus purem Gold, der schnell mich sinken lässt, in deinen kalten Schoß, dessen Wellen über mir zusammenschlagen, klatschende Hände, von geifernden Jüngern blind geschwungen,

derweilen wir warten auf Unsrigen, warten auf deinen Untergang, wenn zerstört du hast dich selbst zum ungezählten Male, wenn jeder sich umsieht, überrascht davon, dass wieder mitgerissen du hast alle, die an deinen Röcken hingen, wenn ihr gemeinsam mit wehenden Fahnen vom Erdboden verschwindet, verschlungen von den Gezeiten des Daseins, bis nichts mehr von euch übriggeblieben, nichts als eine dumpfe Erinnerung, gleich einem Schmerz der nie war,

geblendete Augen die nicht sehen, nicht erkennen wollen die alten Mechanismen – einfallslos wie du bist, du, der nichts neben sich ertragen kann, der sich selbst als einzigartig umschreibt, sich selbst mit sich erklärt, weil hohl dein Haus, leer von Liebe, frei von Glück, dafür voll von Zwietracht, Gier und Neid, deine alles verschlingenden Leibesfrüchte, die gerne wären wie du,

wenn wir traurig lächeln, wenn all unsere Brüder und Schwestern an uns vorbeihetzen, um zu dir zu gelangen, alles aufs Spiel setzen, alles hinter sich lassend, als wäre das Verderben eine Urlaubsinsel, und alles ohne dich ein großes Nichts, nicht erkennend, dass es umgedreht ist, weil gestellt du uns hast vor unserem Ebenbild, vor unser Selbst, die wir nicht ertragen können die Wahrheit, weswegen die Antwort auf alles wir suchen in dir,

wie immer ist alles ganz anders, erkennen wir tun dies im Antlitz von Gedeih und Verderb, nur dann wir geloben Änderung, dann wir wollen von dir abschwören, ganz bestimmt, versprochen, wirklich für alle Zeiten, bitte so glaubt uns doch, wenn wir wieder mal Glück gehabt, davon gekommen und nach wenigen Wochen von Neuem gefangen im alten Trott, wieder deinen goldenen Thron jagend, als wäre unser Leid zuvor nur ein böser Traum,

dann wir werden warten auf den Moment, wenn wieder die große Verwirrung kommt, dein Zusammenbruch, den wir dir wahrlich nicht gewünscht, wissen wir doch, das wir es selber sind, die dich füttern, zu der dicken Hure haben gemacht, die mehr und mehr braucht, die wächst und schwitzt bis sie platzt,

wir werden dich überleben, wie alle vor dir, wir werden deine Reste und Überbleibsel zusammenfegen, wenn gegangen du bist, werden andächtig schweigen, doch nicht ernst, da der größte Witz und Unfug du bist selbst, den es je im Kosmos gab,

ein Irrtum, eine Laune der menschlichen Unnatur, die sarkastischste Form von Langeweile und jeder Arme erkennt, dass er reicher ist, als die Reichsten je gewesen,

gehab dich wohl, wir müssen jetzt gehen, nein, wir werden nicht länger bleiben – deine Lieder sind öde und trist – deine Klänge schrill, deine Umarmung kalt – nichts ist dir heilig, uns dafür viel – alles du tust nur für dich, wir stattdessen für die anderen – dich interessiert metallischer Glanz – uns Weisheit und Transzendenz – bezahlst Kriege, antwortest mit Vergeltung, wir wenden uns ab – gehen, ohne Zorn.

 

Der Flaneur – Teil 1

Nach dem Erlebnis mit den Ameisen und all dem Getier, schwoll in mir die Facette des freiheitsliebenden Flaneurs zur alten Gänze heran – so sehr, dass ich mich in einem Befreiungsschlag in den nächstbesten Flieger setzte und in den hohen Norden flog, um dort ein wenig zu verweilen und der Zeit beim zähen Vor-sich-hin-tropfen zuzusehen.

So unbekannt der Ort auch war, so schwierig machte sich alleine schon die Anfahrt. Aber-dutzende Kilometer dieser unglaublichen A7 Wanderbaustelle ließen meine Erinnerung an die gutorganisierten norddeutschen Bemühungen erneut aufkochen, dass man nicht nur in der mondänen Hafenstadt Hamburg felsenfest davon überzeugt war, alle anstehenden Reparaturen gleichzeitig beginnen zu müssen und die Sommerferien als Chance zu nutzen, ist doch jedem bekannt, dass der Verkehr in dieser Zeit auf ein Minimum absinkt, dass ich, nachdem mich die Umleitungsbeschilderung zum zigsten Mal in die Irre geführt hatte, immer weiter und weiter, bald völlig geschafft und verschwitzt hinter dem Lenkrad zusammentrocknete, bevor ich den ersten Meter Autobahn zu sehen bekam. Gänzlich überflüssig zu erwähnen, dass mein Bedürfnis nach einem Aperitif, im Zehnminutentakt wuchs, wie eingeforderte Anzahl.

Ich ergriff die Chance beim Schopfe, hatte ich doch die Möglichkeit neue Straßen zu sehen und schob mich, zusammen mit den anderen frohgestimmten Verkehrsteilnehmern, im Schneckentempo an Ortschildern und sorgfältig gepflegten Vorgärten vorbei, die mich mit harscher Deutlichkeit daran zu erinnern hofften, die eigenen Pflanzen und Beete seit Wochen, sogar seit Monaten sich selbst überlassen zu haben, was die Teilnahme am nächsten Wettbewerb „Schönstes Dorf Nord-Deutschlands“ nicht nur deutlich erschwerte, sondern viel schlimmer, vordere, gar Podestplätze in unerreichbare Sphären schob – meine Nachbarn würden mir meine Unverfrorenheit sicherlich bald heimzahlen.

Nach stickigen vierzig bis fünfundfünfzig Minuten, schlich ich über eine neugebaute Brücke und schlüpfte bei dunkelgelb durch die nur wenige Sekunden dauernde Grünphase, was die lange Schlange und die dunkelroten, immer kleiner werdenden Gesichter im Rückspiegel erklärte, die sich, genauso wie ich, auf ein baldiges Ende der Umleitung, sowie ein Fortsetzen der fröhlichen Reise erhofften. Nachdem ich mit Mühe und Not vom stark verkürzten Beschleunigungsstreifen eine kaum erkennbare Lücke zwischen zwei heranstürmenden skandinavischen Lastzügen erspäht hatte, die mich nur mürrisch hereinließen und mit einigen ohrenbetäubenden Fanfaren-Stürmen ihr Ungemach darüber ausdrückten, dass meine Solidarität nur wenige Sekunden anhielt, ihre Reisegeschwindigkeit bis zur Dänisch-Deutschen Grenze brüderlich mitzugehen.

Eine bunte Mischung heranrauschender SUV-Bataillone, vorzugsweise aus dem Hamburger Umland, sowie anderen dichtbebauten Gebieten, wie die Ruhrpott-Umgebung, scheuchten mich im Sekundentakt vom linken Überholstreifen, von ihren grellen Xenon-Scheinwerfern höflich ermahnt und ausgiebig daran erinnernd, dass es in der gut organisierten Bundesrepublik ein offensichtlich hoffnungsloses Unterfangen blieb, mit einem kleinmotorisierten Auto den verzweifelten Versuch zu unternehmen, auf Gleichberechtigung und Brüderlichkeit zu hoffen. Baal sei Dank, kam niemand zu Schaden.

Unbeschadet verließ ich bei Flensburg die Rennbahn und rollte über die B200, bald B199 Richtung Glücksburg. Und wieder einmal überraschten mich die Extreme in diesem Land. Nachdem mich Großstädte und Autobahnen weichgekocht hatten, machte sich im schönen Angeln eine Ruhe und Gemütlichkeit in mir breit, wie ich sie lange nicht mehr gespürt hatte.

Sanfte Hügel, mit bunten Tupfern, hier und da eine alte Mühle, dort ein Bauernhof, die Straßen von schwarz-weiß-gesprenkelten Kühen gesäumt, die in Zeitlupe ihr Gras kauten und verständnislos dem hektischen Treiben der Menschen hinterhersahen, bis ich endlich auf der Halbinsel Holnis ankam, wo eine übermächtige Stille mich und meine Neurosenkollektion willkommen hießen und unvorbereitet überrannten, die ich mit Müßiggang und guten Weinen zu pflegen versuchte, so gut es irgendwie ging – aber dazu mehr in einem anderen Kapitel.