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Meine Augen

Im Schlamm liege ich. Seit langer Zeit schon wälze ich mich mit meinen Flügeln im Schmutz und werde ihn nicht los – ständig schüttet unsere Zivilisation neuen Unrat drauf. Immer wenn ich gerade denke, jetzt sind die Flügel frei, kommt eine neue Ladung. Und weil ängstliche Gesellschaften und Menschen auf Nummer sicher gehen, haben sie sich eine totsichere Lösung einfallen lassen, damit ich nicht hoch und weit fliege – seit meiner Geburt trage ich eine Leine am Fuß – zwar ist sie lang genug, um mich zu erheben, aber ausreichend kurz, um mich jederzeit runterzuziehen, wann immer es nötig ist.

Sie halten mich am Boden wie all die anderen Landtiere – wie ein Ziervogel im Käfig, oder ein Dodo – mit dem Unterschied, dass ich furs Fliegen gemacht bin. Sieht man mir aber direkt in die Augen, kann man erkennen, dass ich schon mal von wahrer Freiheit gekostet habe. Eine phantastische Speise – einfach unbeschreiblich. Ein paar Mal konnte ich mich nämlich von den Fesseln lösen, bin dann ganz hoch hinaus; bin geflogen wohin ich wollte, tagelang. Irgendwann bekam ich Hunger. Ich machte den Riesenfehler zurückzufliegen.

Hätte ich doch bloß meinen Magen knurren lassen. Verdammt, wäre ich doch bloß jagen gegangen – es zumindest versucht. Bestimmt hätte es geklappt. Schön Beute machen, den Magen mit frischem Fleisch vollschlagen. Welch fataler Fehler zurückzufliegen. Sie machten ein Heidentheater, als ich plötzlich wieder da wa und bekam natürlich eine neue, noch festere Leine angelegt.

Freiheit – weiß man von ihr, hast du von ihr einmal probiert, ist es um dich geschehen. Ein Zurück? Ausgeschlossen. Du bist gebrandmarkt, bist beschädigte Ware. Von dem Tag an, dreht sich alles nur noch darum, sie wiederzubekommen – jeden Tag – das ganze Leben.

Schmutz und Schlamm abschütteln, die Schlinge abstreifen, sich endlich erheben – hoch über den Wolken zu schweben – Thermiken ausnutzen, sich mit ihnen hochschrauben, höher und höher – den weiten Blick genießen, den Göttern hallo sagen – fliegen, um zu sein – die Erde von oben sehen, wie sie wie ein gewaltiger Organismus danieder, in den Wehen liegt – wie sich Pflanzen und Lebewesen durch sie bohren, hindurchschrauben, sich in die Quere kommen, einander bekriegen und bekämpfen, um zu siegen und stärker zu sein als die anderen – zu dominieren, den Ton angeben, sich in alles einmischen, alles entscheiden müssen. Unersätzlich sein und bleiben, immer Mangel spüren, in der Hoffnung unsterblich zu werden.

Gegen Nachmittag landete ich in Heraklion. Kaum trat ich aus dem Flugzeug und schritt die Treppe hinab, bemerkte ich das besondere Licht. Es ist weich und warm, von einer ganz anderen Farbzusammensetzung – nicht so hart wie auf dem Festland. Es ist intensiv, aber blendet nie. Auch das Blau des Himmels ist von einer Farbe, wie ich sie noch nie gesehen habe.

Gut gelaunte Busfahrer kurvten uns in museumsreifen Kutschen zum Terminal, an dem man die buntgefleckte Urlaubsware sorgfältig auskippte. Ein Terminal wie aus Kuba. Geborstene Stahlbewährung steckt hier und da ein Bein aus dem Beton, als wäre es langweilig in der Wand, als hätte sich alles und jeder von Glück und Lebensfreude anstecken lassen.

Vermutlich hat man das Gebäude vor langer Zeit gebaut und seit dem, nichts mehr daran getan. Beim Betreten des Terminals komme ich drauf: Sieht aus wie eine alte Schule. Die Treppen, das Laufband, im großen Saal, der nach Turnhalle aussieht und auch so riecht. Erleichtert gehe ich an der Touristenschar vorbei. Mir langt mein kleiner Rucksack.

Als ich raustrete, bin ich überwältigt – eindrucksvolle Gesichter, mit kantigen grimmigen Gesichtszügen, und gütigen Augen. Dunkle Haut, die an Krokant erinnert – Sprachmelodien, die mit ihren beeindruckenden Worten markigen Eindruck hinterlassen – was für eine mächtige Sprache. Voll Leidenschaft, Energie und Lebenslust. Und dann noch der Duft der Luft dazu.

Tief beseelt setze ich mich in eine sonnige Ecke und schaue dem regen Treiben zu, wie alles durcheinander-wuselt, wieder und wieder zusammenkommt und erneut auseinander stiebt, wie ein Schwarm aufgedrehter Spatzen – unterstrichen, von einer unvergleichlichen Melodie, eingetunkt in weich-gezeichneten Farben, als würden die Götter höchstpersönlich den Pinsel führen – bis ich über diesen wunderschönen Moment langsam, tief und fest – einschlafe.