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Odyssee 2019 – CW37

Ein weiterer Montag bei den Hellenen – mittlerweile schlafe ich jede Nacht mindestens sieben Stunden. Auch träumen tue ich jedes Mal – sogar sehr viel und intensiv. Ich muss mir wieder Notizen nach dem Aufwachen machen. Zu oft verschanzen sie sich in Morpheus‘ Reich – haben offensichtlich wohl keine Lust ein tristes Alltagsdasein zu fristen. Ich verstehe das.

Die wenigen Tage in Athen verpassen mir das letzte bisschen Entschleunigung, um mich wie ein Daoist zu fühlen, der nur noch im hier und jetzt ist, weder an gestern, noch an morgen denkt – nur noch sein. Wozu noch irgendetwas machen? Mehr und mehr verstehe ich Diogenes von Sinope, der ein Leben in Armut und im Jetzt wählte – angeblich in seiner sagenumwobenen Tonne.

Hemden zur Reinigung bringen? Versicherungen bezahlen, Steuererklärungen machen und Derartiges erscheinen mir geradezu absurd. Längst wasche ich nur noch mit der Hand. Verzicht bringt Erleichterung – die richtige Stimmung, um Exarchia, die alternative Hochburg Athens, das Headquarter der autonomen Szene zu besuchen – ein Viertel, groß wie ganz Altona, mit dem Spirit der Schanze vor 10 Jahren, ein atemberaubender Augenöffner.

Ich wandere von der Akropolis direkt auf’s Politechniko zu, jene Universität, in der Studenten in den sechziger Jahren gegen die Militärjunta demonstrierten und die als Vergeltung dann die Hochschule mit Panzern stürmen ließ, gar Tote in Kauf nahm! Heute ist die Uni im Dornröschen-Schlaf, von außen zugekleistert mit Graffiti, nur von innen erkennt man ihre einstige Schönheit und Reinheit. Jetzt sind nur noch Architekten und Linguisten in ihr tätig, immerhin etwas.

Ich hoffe, das Gebäude wird auf ewig von Studenten mit Leben erfüllt bleiben. Aus Pietät habe ich keine Fotos vom Innersten gemacht – aus Respekt vor dem, was hier geschah – man kann den Spirit spüren, kann fühlen, was für eine Energie in diesem Viertel steckt, wie das Polytechniko das lebende Herz Athens ist.

Andächtig schleiche ich durch die Gassen, blicke mit scheuen Augen hier und dort hin. Besuch eines ethisch-moralischen FKK-Strandes, den ich nur ungern angezogen betrete. Verwachsen, durchdrungen und verbohrt von Schönheit, Würde, übergossen von Düften, Blumen und Tavernen, kleinen Verlagen, Druckereien und Buchhändlern, durchmischt von Verfall.- Untergangs.- und Abfallgestank, liegt Exarchia mir zu Füßen, zeigt unverhohlen, was es war, was es ist, was es immer sein wird.

Politiker aller Generationen bluteten hier aus, werden auch heute, auf immer und ewig hier scheitern, wenn wir uns nicht gemeinsam weiterentwickeln und den so unumgänglichen notwendigen Dialog beginnen. Hier spüre ich den Puls aller Griechen, hier fühle ich, was es heißt so zu fühlen – wild, leidenschaftlich, voller ungebremstem Temperament, bereit jedem Tag das Maximum abzuringen, egal wo auf der Welt, ob unter der Brücke, oder eigenen vier Wänden.

Noch immer sind die Griechen die gleichen ungeschliffenen Rohdiamanten, die sie schon seit Jahrtausenden immer gewesen sind. Heute, im dritten Jahrtausend, überzogen, garniert von fremden Sprachen und politischer Piraterie und privatem Gaunertum; Andenken früherer Zeiten, als es kein geeintes Hellas, sondern nur eine wilde Anzahl stolzer Stadtstaaten gab.

Wie ein Frischgeborenes taste ich umher, wandle bis in die späten Abendstunden herum, bis erste Orks aus den dunkeln Verließen kriechen und sich in die Gassen drängen, durch die man besser nur mit Schwert oder stählernem Willen schreitet. Heute bin ich bereit dazu, den Käfig zu betreten. Ein dunkler Platz zieht mich magisch an. Düstere Gestalten hängen in gebeugter Haltung herum, sofort auf mich aufmerksam machend, langsam, wie ein Rudel Untoter an mich heranschleichend – Gesichter, wie aus düsteren Märchen.

Geschundene, ärmlich aussehende, deren Augen immer noch vom selben wahnsinnigen Feuer gespeist warden. Wir alle sind Elendige, Verdammte, Verstoßene, um ewig hier herum zu wandeln und wahlweise Paradiese oder Höllenfeuer zu erschaffen, in denen wir langsam oder blitzschnell garen, bis sich unsere Seelen aus dem Knochenmark lösen und emporsteigen, bis wir, nach kurzer Rast wieder hinabgeschickt werden, um neuen Aufgaben nachzugehen. Göttlicher Kreislauf der Ewigkeit. Irgendwann weit nach Mitternacht krabble ich in meinen Kokon, rolle mich wie ein Säugling ein und entschlummere, um den Göttern kurz hallo zu sagen.

Dienstag – Ich schieße hoch, boah war das ein krasser Traum! Wir haben erst Anfang der Woche, dabei fühlt sie sich schon so mächtig wie ein Monat an – ich rolle mich langsam aus meiner kleinen Metamorphosen-Gondel und schleiche still zum Kaffee an der Ecke. Frühstück mit Baklava und Griechischem Kaffee. Ich merke, wie ich immer stiller und andächtiger werd, wie ich schweigend das Leben anstaune, wie ich alles wissen, schmecken, spüren, umarmen und erleben möchte, wie ich im gleichem Atemzug fühle, es nicht zu schaffen, aber mich selig fühle bei der Vorstellung, es jeden Tag erneut zu versuchen. Mag es auch noch so schrill, jung und naiv klingen: Ich bin lieber ein Utopie liebender glücklicher Thor, als ein kluger und vernünftiger Realist.

Ich muss noch mal nach Exarchia, oder Anarchia, wie ich das Viertel liebevoll taufe. Solche Spots laugen mich aus mit ihrer Intensität. Genau dafür liebe ich sie. Berauschend lebendig-feminin, wahnsinnig geworden von der eigenen Virilität, den unkontrollierten Ausbrüchen, erschüttert und verwüstet von ihren Verhehrungen, ihren Feuersbrünsten, die wie flammende Schwerter durch die Gassen fuhren. Noch heute kann man die tiefen Wunden sehen und spüren, wo beide Seiten aufeinanderprallten. Noch heute wimmelt es von Polizisten und Soldaten.

Aber man kann Gedanken und deren Ideale nicht kontrollieren, geschweige besiegen; man kann nur überzeugen, oder annehmen. Umtausch, oder gar andere Lösungen haben die Götter bei der Erschaffung des Menschen nicht vorgesehen.

Abendessen an der Akropolis. Eine klassische Taverna. Sie lockt mit Musik und Tanz. Das Essen ist okay, aber kein Burner, so wie die Folklore, die mit zu viel aufgesetzter Fröhlichkeit verziert ist, die weder echt, noch ehrlich gemeint ist, dennoch funktioniert. Touristen allen Alters sind aus dem Häuschen und werden gemolken, was Euter hergeben und Milchkannen fassen.

Übersättigt, schlurfe ich um die Akropolis herum, mache halt, um den Ausblick über Athen zu genießen, eine Zigarette zu rauchen und friedlich, schweigend und still wieder in meine Wabe zu schlüpfen, bis mich Morpheus wieder auf die Erde zurücklässt.

Mittwoch – letzter Tag in Athen. Heute ist der große Tag, an dem Akropolis und ich aufeinandertreffen. Um nicht von den Ameisenarmeen der Touristen zertrampelt zu werden, muss man vor neun Uhr dort sein, andernfalls wird man Zeuge, der unaufhaltsamen Planierraupe. Glücklicherweise schaffe ich es und beginne den Anstieg, nachdem ich die knackigen zwanzig Euro gezahlt habe. Doch diese Zahl hat man vergessen, wenn man die Stufen emporsteigt und vor ihr steht, mit Nike-Tempel und all den anderen Monumenten rundherum, seien sie daneben, oder zu Füßen liegend.

Meine Güte – ich bin Sprachlos! Es ergeht mir ähnlich wie in Epidauros. Was zum Teufel machen wir nur jeden Tag auf diesem Planeten? Was tun wir mit unserem Leben? Was? Wie können wir so weitermachen? Wie konnte es zu all dem kommen, von damals bis heute, wo wir doch schon viel weiter waren. Warum schreiten wir auch heute wieder überall zurück? Als der Besucher-Tsunami heranrollt und die Welle mit voller Wucht herniederschlägt, mache ich meinen Frieden, sage den heiligen Steinen lebe Wohl und schreite andächtig herab.

Jetzt weiß ich, warum alle Gegner versuchten sie zu zerstören. Sie ist das leuchtende Herzen aller Griechen, eine Stütze, an der man sich anlehnen, sich erholen kann, um auszuruhen, um zu verschnaufen, neue Kraft schöpfen und vom Glück zehren zu können, sie wahrhaftig vor sich zu haben, mit ihr zu leben, sie bei sich zu tragen, mag man auch fern der Heimat sein.

Am Nachmittag machen wir Pick-Nick in einem schönen Park – Filia und Elektra haben Wein und Essen vorbereitet – ich bin überwältigt, wie viel und gerne sie geben, wie liebevoll Griechen mit mir sind. Wir reden den ganzen Nachmittag über Literatur, Philosophie, Freiheit, Demokratie und Krieg und Frieden. Auch schlagen wir erste Pflöcke ein, um über die konkreten Möglichkeiten meiner Bücher und deren Übersetzung vorzubereiten.

Nach ein paar Stunden lösen wir die angenehme Dreisamkeit auf, die wir jedoch, nach Siesta, am Abend fortsetzen. Auch der Abend wird herrlich. Wir bleiben bei Filia zuhause. Käse und Wein leisten uns Gesellschafft, sowie spannende Themen aus Vergangenheit und Gegenwart. Gegen drei Uhr nachts sind meine Worte verbraucht. Still rolle ich mich ein und murmle ein paar unverständliche Worte, bis ich hinfortsegle.

Donnerstag – Zeit Sachen zu packen und aufzubrechen. Ich verabschiede mich von Filia und Elektra. Ein letztes Mal fahre ich durch Athen, den südeuropäischen Schmelztiegel. Am Nachmittag lande ich pünktlich in Heraklion. Mein neues Moped übernehmend, wähle ich den Weg Richtung Chania, Ziel Douliana, ein kleines archaisches Bergdorf, in dem man kaum Englisch spricht und noch weniger von den großen Firmen Europas gehört hat, sowie wenig von den Problemen der Großstädte weiß.

Sokratia, mein neuer Host zeigt mir mein kleines Steinhaus, dessen Kühlschrank mit hausemachtem Wein und Raki gefüllt ist. Ich wandere ein wenig in diesem Kleinod umher, um gegen Abend in einer kleinen Taverna zu landen, wo ich Tsatsiki, gegrillte Lamm-Rippchen, herrlicher Musik und einen ausgezeichneten Hauswein bekomme, der mit einer mir unbekannten Fruchtigkeit und Lebendigkeit aufwartet. Perikles führt es mit seiner Frau und ihren drei Töchtern.

Nach dem ich ein kleines Fläschchen Raki zum Abschluss getrunken und viele Gedanken genossen habe, gleite ich zurück in mein neues Refugium und freue mich auf den kommenden Tag. Morgen werde ich die Gegend in Richtung Chania erkunden, sind meine letzten Gedanken, bevor ich einschlafe.

Freitag – mein erster voller Tag auf dieser besonderen Insel. Ich habe eine BMW G310 als Muli bekommen und knattere fröhlich los. Vorbei an unendlichen Olivenhainen, übersät mit Kaktusfeigen und Blumen kurve ich die engen Kehren hinab in Richtung Wasser. Dort angelangt fahre ich an der tosenden Brandung vorbei und krieche Schritt für Schritt Richtung venezianischem Hafen. Chania ist eine Perle. Uralt und durchmengt von quirligen Menschen und Mofas ist für mich schnell klar, dass diese Stadt zusammen mit Nafplio zu den vermutlich schönsten Orten Griechenlands zählt.

Doch die gewaltigen Touristen-Ströme haben nach wie vor eine abschreckende Wirkung auf mich. Mein großes Dilemma. Ich weiß, dass ohne sie das ganze Land recht schlecht aussieht. Zu wenige Alternativen hat man, weswegen man darauf angewiesen ist. Ich meine bei allen eine Art Wut auf diese stillschweigend akzeptierte Abhängigkeit zu fühlen, wie ein Kranker, der auf die Schwester angewiesen ist und hofft, auch wenn er sie mag, bald ohne sie leben zu können. Hierbei bedarf es vermutlich Phantasie und Hilfe. Man wird sehen. Für mich ist heute genug.

Gemütlich lenke ich meinen Gaul zurück, Richtung Douliana. Kurz davor fahre ich nach Vamos, um dort Geld und ein paar lebensnotwendige Dinge zu kaufen, wie Milch, Tabak und Sonnencreme. Letzteres ist existenziell, da man hier sonst schnell kross gebraten wird. Im kleinen Mini-Markt von Vamos begegne ich einem wilden Gesicht. Ein Kreter, unbestimmten Alters. Er könnte 70 oder elendige 45, so mein Alter sein.

Faltig, verbraucht, müde, mit zerzausten Haaren, reichlich trinkenden Augen, die immer noch voll von Wahnsinn blitzen. Abgemagert, wie der Erlöser selbst, ein Knochengerüst überzogen mit Haut, einem schmutzigen T-Shirt und einer dreckigen Jeans. Sekunden denke ich darüber nach, ein Foto zu machen. Schon lange will ich eine Foto-Reihe von markerschütternden Gesichtern und Menschen machen. Doch ich verwerfe, wie früher, diesen Gedanken.

Nachdem ich eine kurze Siesta gehalten habe, wird mein abendliches Essen bei Giannis und Familie genauso schön wie das Vorige. Heute gibt es Schwein. Köstlich angerichtet, mit Rotwein diesmal und Oliven dazu, lasse ich es mir gutgehen. Gegen Mitternacht merke ich, wie mir die Augen zufallen. Mittlerweile bin ich gefühlt seit mehr als sechs Monaten unterwegs. Ich komme an meine Grenzen. Wäre das Schreiben nicht, würde ich vermutlich ausflippen.

Sowieso stele ich mir immer mehr existenzielle Fragen. Wie will ich weiterleben? Und vor allen Dingen, wo? Natürlich sind meine Freunde wichtig. Man kann sich nicht beliebig oft umtopfen und darauf hoffen, dass es so weitergeht. Manchmal gibt es Veränderungen im Leben, die man nicht vorhersehen kann. Doch zuallererst muss man sich selber klar sein was man will. Schon länger fühle ich mich wie ein Vogel, der umherfliegt, hier oder dort landet, sich umschaut und weiterfliegt.

Geht es ewig so weiter? Bin ich nicht mehr gemacht für‘s Sesshaftsein? Ist das meine Bestimmung? Kommt jetzt die große Bewegung, Unruhe und Rastlosigkeit? Wie bringe ich alles unter einen Hut? Und wie soll er aussehen? Wir Menschen sind Sozialtiere, wir brauchen Austausch und Kontakte mit unserer Art. Man läuft sonst zu schnell Gefahr, zu verkauzen, wenn man nicht offen und beweglich bleibt. Doch wieviel Bewegung ist gesund? Wieviel Rituale brauche ich selbst?

Eine meiner zentralen Fragen, an deren Beantwortung ich seit Jahren arbeite. Ein Optimum habe ich noch nicht gefunden. Vielleicht gibt es das auch nicht. Und dann sind da noch meine Bücher. Ich muss Ende des Jahres Horus abliefern. Langsam wird es knapp. Zu mächtig sind die Eindrücke in diesem schönen Land. Mehr und mehr spüre ich, dass ich ein paar Entscheidungen treffen muss. Mit diesem wilden Knäuel Gedanken segle ich in stürmische Träume davon und brause in die tosende Nacht.

Samstag – spät erwache ich. Nur schwer kann ich mich aus dem Strudel des Traums befreien, verpasse es jedoch, mir ein paar Notizen zu machen. Mist! Ich mache mir einen großen Kaffee und esse vom Kuchen, den mir Sokrata als Willkommens-Geschenk überreicht hat. Heute will ich mehr hinter die Kulissen schauen. Touristenattraktionen interessieren mich nicht. Ich will das Pure.

Euphorisch schwinge ich mich auf mein Pferd und reite die sanften Hügel hinab. Nachdem ich am Hafen von Souda vorbeigefahren bin, den beachtlich großen Navy-Sperrbereich bestaune, der mehr als den halben Ort einnimmt, biege ich in Richtung Flughafen ab und folge meiner Nase, die mich tiefer und tiefer in die tiefste Wildnis führt. Irgendwann endet der Asphalt. Kleine Sandwege und umliegende Olivenbäume rücken enger und enger zusammen.

Die Wege sehen aus, als wenn hier seit Jahrzehnten niemand mehr vorbeigesehen hat. Ein beklemmendes Gefühl überkommt mich, ähnlich wie vor Kaiadas, dem Höllenschlund der Spartaner. Ich schaue mich um, wende und fahre wieder raus aus dem Dickicht. Ein paar Stunden kurve ich noch umher, ich liebe es, die Nase im Wind zu haben und ihr blind zu folgen und nur dann abzubiegen, wenn ihr danach ist.

Gegend acht Uhr abends komme ich heim. Kurze Dusche, dann Abendessen bei Giannis. Heute nehme ich Souflaki, was ebenfalls sehrgut ist, nicht nur wegen dem Weißwein, den ich dazu habe. Ein paar Raki runden den Abend ab. Ich merke, dass meine Fässer wieder gelehrt werden müssen. Zuviel schwirrt mir im Kopf herum.

Bleibt zu hoffen, dass ich bald an Horus schreiben kann. Muss dafür disziplinierter und regelmäßiger schreiben. Spätestens wenn ich aus Griechenland weg bin. Aber was, wenn ich bleibe? Was, wenn ich hier sesshaft werde? Muss einen Weg finden, hier regelmäßig zu schreiben und schlafe mit diesen Gedanken zufrieden ein.

Sonntag – Schreibtag. Nach langem Schlaf setze ich mich mit Kaffee und Gebäck hin und starte die Schreibmaschine. Plötzlich klopft es an der Tür. Sokrata steht mit dampfendem Mittagessen und frisch gebackenen Keksen vor mir. Überwältigt schlucke ich schwer und ringe um Worte.

Immer wenn ich mal was brauche, stehen Griechen vor meiner Tür. Es ist herzergreifend. Vor Rührung bekomme ich feuchte Augen. Das Essen ist fantastisch, die Kekse auch. Eine Verdauungszigarette mit dem ersten Glas Wein des Tages macht die Pause erfrischend & rührend.

Frisch gestärkt springe ich wieder zurück ins Wörter-Meer. Mit kräftigen Zügen schwimme ich raus in die offene See, immer weiter und weiter. Eine schöne Vorstellung darin unterzugehen, denke ich und fange an den Text zu korrigieren und ihn hochzuladen. Zum Wohl!

 

Odysseus der Neuzeit

Etwas Unbekanntes hat sich meiner bemächtigt – so wie morgendlicher Frühlingsnebel, den man zwar wie dicke Suppe sieht, aber nicht greifen kann. Man hat mich umstellt – umzingelt von einer teigigen Präsenz. Etwas ist zu Besuch gekommen, hat sich eingenistet in meinem Fleisch und Geist und hält meine Seele umklammert.

Was ist geschehen?

Die Luft riecht luftig und leicht – Sonnenstrahlen vermehrten sich wie Schnecken und scheuchen meine tiefschlafende Natur mit roher Gewalt auf, indem sie Säfte durch meine Kapillaren jagen, gleich Bauern, die des Morgens ihre Schweine mit Mistgabeln aus den Ställen treiben. Sogar die Vögel, wundern sich, dass sie noch lieblicher als sonst herumzwitschern und ertappen sich dabei, wie sie sich selbstverliebt zuhören.

Was ist passiert?

Hab ich irgendetwas Unbekanntes eingeatmet, oder ist in mich eingedrungen und saust durch meine Blutbahnen, alle Organe zu einer großen Feier einladend? Ist es was Physisches? Mein Gedächtnispalast jedenfalls, hat zur Zeit das Schild „geschlossen“ vor die Tore gehängt.

Etwas hat mich durch Mark und Bein erschüttert.

Nach der letzten Drachenbändigung, hatte ich dem schlafendem Ungeheuer, vorsichtig und ganz sachte, Stück für Stück einzelne Schuppen aus dem Panzer gezogen, um mir eine unzerstörbare Rüstung für mein Herz zu bauen. Doch wie konnte mich jetzt sein Pfeil treffen? Hat er am Ende meinen Drachenpanzer durchschlagen und ist mir bis zum tiefsten Punkt ins Herz gefahren?

Es ist offensichtlich – der Bogenschütze hat mich erwischt, es konnte nicht anders sein. Dabei habe ich ihn nicht mal gesehen – es ist zum verrückt werden. So ein abgekartetes Spiel – noch nie strauchelte ich so sehr – krachend zu Fall gehend, unter tosendem Weltengelächter.

Seitdem fahre ich ziellos auf dem Meer herum.

Kapitän auf großer Fahrt und kein Land in Sicht – hoffentlich erschlägt mich all das Wasser nicht. Man läuft Gefahr, nicht ins Paradies, sondern zu Monstern, Medusen und Riesen zu kommen. Deswegen schön weiterfahren, ohne zu ahnen wohin, geschweige zu wissen warum und weshalb.

Natürlich auf die Gefahr hin, wie eine zu schnell abgeschossene Flipperkugel, unkontrolliert durch den Orbit herumzuschippern, ohne die leiseste Ahnung, wohin die Reise geht – fast immer dabei verbrennend, verglühend, wie wunderschöne Sternschnuppen – um unter rauschendem Beifall wieder und wieder neu aus der Asche zu fahren.

Ungeduld und Ansprüche, nähren unser Fegefeuer der Eitelkeit, in dem wir uns selbst knusprig rösten, bis wir den Götter serviert werden. Die einzige Macht die wir haben, den Weg raus aus dem galaktischen Flipperautomat zu finden, hinein zum Licht, ist das Verweilen, die Muße. Mit Gelassenheit und Ruhe können wir sie aus der Reserve locken – Spiel umdrehen, die Angebote des Lebens abwarten. Geduldig sein und tapfer weiterfahren.

Wer nicht alles riskiert, kann auch nicht alles gewinnen.

 

Waschlappen

Wasser macht mir Angst. Als Kind hasste ich Waschlappen abgrundtief. Besonders wenn sie mir das Gesicht aufweichen wollten. Es zwang mich auf dem Fahrrad mein Regencape anzuziehen und wie ein Trottel auszusehen. Nass wurde ich trotzdem; irgendwo lief es immer rein. Dazu kommt noch, dass Wasser immer das letzte Wort hat. Ziemlich anstrengend das Ganze. Noch schlimmer finde ich aber, dass es meint überall dabei sein zu müssen. Oft habe ich mich gefragt, ob ich wegen ihm lebe, oder für. Vor einiger Zeit habe ich festgelegt, dass es Ersteres ist. Freude fühlen und dankbar zu sein finde ich schöner, als darauf böse zu sein für jemand anderen zu leben. So etwas ist schrecklich. Degradiert dürfte ich mich dann fühlen; Leben zweiter Klasse.

Während ich jetzt darüber nachdenke, wie ich eben durch ekelhaften Norddeutschen Schneeregen gefahren bin, über traurig matte Straßen, vorbei an verzweifelten Bäumen, die ihre hängenden Arme am liebsten in die Erde gesteckt hätten, dann merke ich, wie mir die Kälte in die Glieder fährt. Nass und klamm, wie eine eisige Klinge. Ich merke, dass mein Wörterfluss ins Stocken gerät, als wenn die sinkende Temperatur auch meine Sprache erfasst; wie meine Stimmung in den Keller fährt, in die tiefen Schächte, dort wo es düster ist, kalt und nass; wie die Feuchtigkeit mir unter die Haut kriecht, mich immer mehr gefangen nimmt, bis ich merke, dass es wieder gewonnen hat, mich an die Wand drängt und mir die letzte Energie absaugt, bis ich still von ihm aufgenommen werde und weg bin, so wie meine Sprache, die schweigt und in der Stille wartet, irgendwann wieder neu erblühen zu dürfen. Vielleicht schon morgen.

 

Adam’s Welt

Reich beschenkt hatte die Natur das Land. So reich, dass sich sogar die vielbeschäftigte Evolution daran störte, das es unter der vermeintlich schweren Last ach so sehr keuchte und stöhnte; alles war viel und toll; da waren die Wälder: Soweit die Augen eines faulen Adlers blicken konnten, endeten sie am Horizont; die Wiesen waren so grün, dass es sogar die Tiere aufregte und sich darüber beschwerten, dass sie zu saftig wären; und dann die Berge: Ihre kitschig-weißen Spitzen gaben einem den Rest; selbst das Wasser der Seen war so klar, das man das Lächeln der tiefschwimmenden Fische sehen konnte.

Würzig und frisch war die Luft. Pittoreske Küsten schmiegten sich gleich einem Geländer eng an ihm entlang, Küsten, an deren Klippen schwere Wellen theatralisch donnerten, sich jeden Tag aufs Neuste austobten, gefüttert vom ewighungrigen Ozean, der auf hilflose Fischerboote wartete. Wo sich viele Menschen niedergelassen hatten, oft an schönen Plätzen, entstanden Siedlungen die sich wie gierige Amöben ausdehnten und quer durch die Landschaft fraßen. Städte wuchsen und wuchsen. Zu jener Zeit führten die Menschen normale Leben. Sie kamen zur Welt, wurden groß und immer größer; irgendwann wurden manche sogar reifer, erfahren und weise. Die Humorvollen unter ihnen gründeten Familien und zogen Kinder groß, ähnlich wie es die Eltern vorgemacht hatten. Manche wurden mit der Zeit älter und älter. Einige wurden so alt, dass sie kindlich, lustig und still wurden, bis sie am Ende nur noch schwiegen. Alles in diesem Land war schön und perfekt, wirklich alles.

Adam war eines von vier Kindern. Alle vier waren Jungs und seine Brüder alle jünger als er. Zusammen mit ihrem mittlerweile grauhaarigen Vater bestellten sie das Feld, von dem die ganze Familie lebte, so wie die meisten, wenn man nicht gerade Beamter, Senator oder König war und über Leben und Tod gebieten konnte. Sie wohnten in einer Hütte. Doch obwohl es kein schickes Haus aus Ziegeln war, so eines wie die reichen Menschen in den teuren Stadtvierteln, konnte die Hütte ihre Bewohner mit einer warmen und heimeligen Gemütlichkeit verwöhnen. Das Herz der Hütte behütete eine offene Küche, in der die Mutter das Essen zubereitete. So lebte und arbeitete man vor sich hin. Alles war etwas einfacher als heute; es gab keine Treuepunkte beim Supermarkt, und keine Handy’s; weder Kreditkarten, noch Fernsehen gab es. Man bekam nicht mal Stromrechnungen; überhaupt gab es weder Post von Versicherungen, noch Aufforderungen, den Lohnsteuerjahresausgleiche zu machen.

Früh am Morgen stand man auf und ging aufs Feld, um es zu düngen, pflegen, hegen und abzuernten. Abends kam man wieder nachhause, um müde still und andächtig zu essen und danach erschöpft ins Bett und in einen bleiernen Schlaf zu fallen. Der Kreislauf des Lebens, mit viel frischer Luft und einem guten Maß an Bewegung: Alles was das Herz begehrte und was man zum glücklich sein brauchte.

Während der Pubertät bekam Adam eine tiefere Stimme und an einigen, meist bedeckten, Körperstellen auch mehr Haare. Er merkte, dass sich die Welt veränderte. Sie war nicht mehr die Gleiche: Alles roch intensiver als vorher; hören tat er auf einmal feiner als zuvor; sehen tat er Dinge, die er vorher nie gesehen hatte. In seinem Kopf war so viel Chaos, dass er täglich dachte verrückt zu werden. Wirklich. Richtig verrückt. Ständig flackerten Bilder herum, wobei er oft nicht auseinanderhalten konnte, ob er sie im Kopf oder vor seinen Augen hatte. Stimmen hörte er, ohne zu wissen woher sie kamen. Es war so, als wären alle Stimmen der Welt in seinem Kopf zuhause.

Eines Tages, er stand bereits seit dem frühen Morgen auf dem Feld, da sah er in weiter Entfernung einen Regenbogen.

„Hey, schaut nur; seht euch das an: Der Himmel ist ganz bunt. Seht doch!“

So etwas hatte er noch nie vorher gesehen. Es war der Erste seines Lebens. Er war so fasziniert, dass er zu arbeiten aufhörte, offenen Mundes sprachlos dastand, trockene Lippen bekam und diesen farbigen Himmel ansah, als wäre es das größte Wunder der Erde. Auch seine Brüder hielten inne und blickten zum Horizont. Diese Farben, diese Pracht. In ihm begann es zu brodeln und zu gären. Das musste er sich aus der Nähe anschauen, unbedingt. Während sie Abends zu Tisch saßen, brach es aus ihm raus:

„Sagt mal, dieser bunte Himmel, was hat das zu bedeuten? Was ist das und wo ist das? Es sieht so weit weg aus; kann man sich das nicht mal genauer ansehen?“

Der Vater runzelte die Stirn.

„Sohn, es ist vielleicht irgendein Zeichen der Götter, aber ich bin mir nicht sicher, ob man es sich aus der Nähe ansehen kann.“

„Das heißt, du hast ihn noch nie aus der Nähe gesehen, bist noch nie hingegangen?“

„Nein, mein Sohn. Ich habe auf dem Feld gearbeitet, weil es das ist, was ich kann und das ist, was ich tun muss, um die Familie zu ernähren, verstehst du?“

„Ja, natürlich.“

Etwas resigniert schwieg Adam; er hatte den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden und wollte den Vater nicht verärgern. Er wollte aber den Ernst aus der Unterhaltung entfernen, so wie er sich lästige Splitter herauszog, wenn sie irgendwo zubissen und störten.

„Papa, sag mal, die Geschichten von den Drachen und den Meeresungeheuern, die du erzählt hast, sind die alle wahr? Hast du die Ungeheuer gesehen? Hast du die Drachen gesehen?“

„Hätte ich sie alle gesehen, würde ich euch die Geschichten wahrscheinlich nicht erzählen können, weil…“

„Aber Vater, wenn du sie nicht selber gesehen hast, dann weißt du ja gar nicht, ob es sie gibt?“

„Sohn: Wenn erfahrene Seemänner und erfahrene Wandersleute von ihren Reisen nicht mehr zurückkehren, kannst du davon ausgehen, dass Drachen und Ungeheuer ihre Arbeit verrichtet haben, so wie du auf dem Feld, wenn du nicht gerade den Regenbogen bestaunst.“

Das hatte gesessen; Adam wusste das sein Vater ihn irgendwann mundtot machen würde; er war traurig, dass sein Vater ihn so schlecht verstand. Wie stumme Marionetten saßen seine Brüder am Tisch, schlürften ihr Abendbrot mit gesenktem Haupt und versuchten, so gut es ging, stumm aneinander vorbeizusehen. Schweigend sah die Mutter den Vater von der Seite an und seufzte.

Adam hatte sich gerade bettfertig gemacht und war dabei das Licht zu löschen, als es an seiner Tür klopft. Leise wurde die Tür aufgestoßen. Sein Vater trat vor das schwach flackernde Licht der müden Kerze. Adams Herz klopfte; er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so spät zu ihm ins Zimmer gekommen war. Mit einer Mischung aus Angst und Neugier wartete er, was passieren würde.

„Adam; es tut mir leid dass ich vorhin so hart zu dir gesprochen habe; ich musste es tun, weil ich vor deinen Brüdern nicht sagen konnte, was mir schon seit Monaten auf dem Herzen liegt:“

Adam schluckte schwer und war gespannt wie ein Krokodil kurz vorm Zuschnappen.  

„Du bist nicht für die Landwirtschaft gemacht, mein Sohn. Ich sehe es, wenn du die Natur ansiehst; wenn du Bäume liebevoll betrachtest als wären es Menschen; wenn du das Salz in der Luft riechst und dich darüber freust, das es da ist; wenn du bei der Feldarbeit die Blumen am Wegesrand siehst und ihnen gerührt über die Blätter fährst, als wären sie junge Mädchen, die dich verzaubern wollen; wenn du den Regen anlächelst, während deine Brüder fluchen und sich unterstellen; wenn du mit den Schmetterlingen sprichst, mit allen Tieren, sein es Insekten, Vögel oder Ameisen; wenn du wie gebannt meine Geschichten von Riesen, Monstern, Drachen und Ungeheuern lauschst, jedes Detail wissen willst, während deine Brüder vor Angst schlottern und weinen; wenn ich sehe wie du Erde in die Hand nimmst und sie zerreibst, an ihr riechst und lächelst, als wäre es eine Zitrone oder reife Feige, dann weiß ich, was zu tun ist.“

„Papa, woher weißt du das ich…..“, der Vater überging seinen Einwand und fuhr fort, als hätte er nichts gehört.

„Hier mein Sohn, nimm diesen Beutel Goldmünzen; sie werden dich weit bringen; weiter als du dir vorstellen kannst; wenn du sorgsam damit umgehst, bringen sie dich zum Regenbogen und wieder zurück; gib darauf Acht. Es ist deine Sicherheit und Zukunft zugleich. Verwahre es so, dass es niemand sieht; halte ein paar immer in deinen Taschen bereit, damit du Zahlen kannst, ohne den Beutel hervorzuholen; Neid und Missgunst sind weiter verbreitet, als Intelligenz und Schlauheit; hier, nimm dies Amulette; es wird dir Glück bringen und dafür sorgen, dass du gesund bleibst; das eine ist ein getrocknetes Pils; frag mich nicht, woraus der Ring gemacht wurde; sollte es dir mal schlecht gehen, lutscht du an beiden, erst am Pils und dann am Ring; hier….nimm diesen Mantel; er bietet Stauraum wie ein ganzer Wohnraum, wird dich wärmen wenn der Nordwind bläst und Regen abhalten, wenn du des kalten Morgens dich weiter aufmachst.“

„Vater, Vater, warum hast du all das…“, Adam schluchzte unentwegt und bekam sich nicht wieder ein.

„…keine Widerreden, mein Sohn; hör mir zu: Wenn du morgen früh wach wirst, ziehst du dich an, nimmst all diese Dinge, sowie diesen Wanderstock und machst dich auf den Weg.“

„Auf welchen Weg, Vater, Ich verstehe nicht..:“, Krokodils-Tränen kullerten ihm die Wangen herab.

„Von was für einem Weg sprichst du? Was soll diese Kette, der Mantel und der Beutel mit dem Gold? Warum hast du das alles? Was bedeutet das?“

„Als ich in deinem Alter war, habe ich das gleiche gemacht; ich bin raus in die Welt. Es scheint mir auch, dass ich sie ähnlich wahrnehme wie du. Nachdem ich die Welt ein wenig kannte, habe ich mich hier mit deiner Mutter niedergelassen, weil es das war, was ich machen wollte.“

Adam bekam immer größere Augen. Plötzlich ging langsam die Tür auf und die Mutter kam mit dazu. Wortlos umarmte sie ihren Sohn, drückte ihn fest an sich und ging weinend wieder raus, ohne das leiseste Wort gesprochen zu haben. Mütter waren immer gut für Diskretion und große Auftritte.

„Aber was ist mit dem Feld, Vater? Wenn ich weg bin, dann seid ihr nur noch zu viert.“

„Deine drei Brüder werden älter, so wie du; auch sie werden irgendwann erwachsen sein und es sieht so aus, dass sie alle drei sehr gut für die Landwirtschaft geeignet sind. Mach dir mal um uns keine Gedanken. Pack du lieber dein Leben am Schopfe. Hörst du? Am Schopfe, nicht an den Beinen. Du braucht sie zum Gehen. Und für alles andere gebrauche deinen Bauch, nicht deinen Kopf. Dein Bauch weiß alles; auf ihn kannst du dich verlassen.“

Stumm lauschte Adam dem Vater. Er war traurig und glücklich zugleich. Eine Weile sahen sie sich stumm an. Dann gab ihm sein Vater einen Kuss auf die Stirn und ging, ohne sich ein letztes Mal umzudrehen, aus dem Zimmer.

Der neue Morgen leuchtete aus vollen Farben. Sonnenstrahlen schienen in Strömen, tunkten alles in gelbgoldenes Licht; Bäume säumten den Weg, der vor der Hütte mündete; Vögel flogen munter herum, zwitscherten um die Wette, als wäre es eine Meisterschaft; Löwenzahn und ein paar an Veilchen erinnernde Blumen standen wild wuchernd herum. Leise zog Adam die Tür zu und blickte den Weg entlang, der vor ihm lag. Dann gab er sich einen Ruck. Vorsichtig wie auf Watte ging er los; Schritt für Schritt entfernte er sich von seinem Zuhause, wo er jeden Tag seines Lebens gelebt hatte, dort, wo er jeden Stein kannte, jede Blume, jeden Strauch und jedes Geräusch, mochte es auch Sommer oder Winter sein. Leicht und beschwingt ging er gemütlich vor sich hin und bemerkte, wie ein merkwürdiges und neues Gefühl seine Seele hochkroch, als würde es sie umschließen. Er war allein. Zum ersten Mal in seinem Leben. Mutterseelenallein wanderte er die Straße entlang; Adam fühlte sich wie ein einsames kleines Boot, das auf einem gewaltigen Meer vor sich hintrieb, wie eine Boje, die sich von der Kette losgerissen hatte.

Er musste schon sehr lange gegangen sein. Mittag war lange durch. Er bekam Hunger und setzte sich unter einen Baum. Gerade wollte er in den Apfel beißen, den seine Mutter ihm eingepackt hatte, als er jemanden schreien und fluchen hörte. Verwirrt blickte er sich um, alle Seiten. Nichts. Keine Menschenseele. Da war es wieder, lautes Pöbeln:

„Verdammter Mist, das geht ins Auge, das geht richtig…..verdammte Scheiße….“

Rums, knack, Peng. Äste brachen, Zweige und Blätter prasselten zu Boden. Adam blickte erschrocken hoch. Irgendetwas großes war in den Baum gekracht. Wieder knackten und brachen Äste. Immer mehr Blätter rieselten zu Boden. Noch immer konnte Adam nichts sehen.

„Ah, verdammt, weg da unten, weg da…..!“

Bums. Mit lautem Krachen, begleitet von derben Flüchen, fiel etwas Großes aus dem Baum, ihm direkt vor die Füße. Adam lief rot an, erschrocken über die vielen bösen Worte; solche hatte er noch nie gehört; er wusste nicht das man so reden konnte, geschweige durfte. Neugierig betrachte er das Wesen; es trug Kleidung in den Farben des Waldes, weswegen seine Konturen schwer zu greifen waren. Vor ihm lag ein Mensch, der gerade dabei war sich nach dem Absturz aus dem Baum aufzuraffen.

„Wer bist du?“, neugierig pirschten sich seine Worte vorsichtig heran.

„Hallo? Kannst du erst einmal guten Tag sagen? Aus welchem unhöflichem Kaff kommst du denn gekrabbelt?“. Diese Person war alles andere als langsam und unsensibel, wenngleich ihr Gepöbel eine Herausforderung für Adam war.

„Ich bin Adam.“, er war höflich und neugierig.

„Okay, und ich Eva. Komm schon, lass den Scheiß; wie heißt du?“ Adam verstand nicht.

„Ich heiße Adam. Du hast mich gefragt und das ist meine Antwort. Wie heißt du?“

„Okay, ein Spaßvogel. Alles klar, einverstanden: Machen wir halt so weiter. Ich heiß Eva und bin eben extra wegen dir durch die Luft geflogen, um dir so einen bescheuerten Apfel zu pflücken, in den du gleich gierig reinbeißt, ich natürlich auch, logisch, obwohl wir uns gar nicht kennen und dann werden wir beide mit einem Arschtritt aus diesem Paradies geschmissen, indem du dich gerade befindest.“

Adam sah sich den Menschen an; das war eine Frau? Wirklich? Frauennamen hatte er schon gehört, aber gesehen hatte er noch keine, mal abgesehen von seiner Mutter.

„Du bist eine Frau? Wirklich?“

„Nein, ich bin ein Kaninchen; sieht man doch. Hinten weißes Bummelschwänzchen, oben schöne große Ohren, lang werden sie ja von alleine, wie du weißt; ach ja und lange Schneidezähne, damit ich meine Karotten knabbern kann. Sag mal, hast du was geraucht? Von welcher Insel haben sie dich denn runtergejagt?“

Adam war immer noch perplex und fing an sich zu fragen, was diese Frau, oben in den Baumwipfeln gemacht hatte. Er kam nicht drauf.

„Sag mal, was ist dir denn da oben passiert? Wieso hast du so geschimpft? Und wieso bist du so den Baum runtergefallen? Du hättest dir weh tun können? Was hast du da oben gemacht? Ausschau gehalten?“

„Sag mal, wer bist du? Ein kleiner schmieriger Detektiv oder sowas? Ich habe keine Zeit für so einen Kram. Ist schon spät. Sorry, ich muss weiter; pass auf dich auf und sieh zu, dass du vor der Dunkelheit am großen Baum bist.“

„Am großen Baum? Wieso? Wo ist der? Kann ich da schlafen? Ist das so eine Art Hotel?“

„Hotel? Sag  mal, weißt du eigentlich irgendwas vom Leben, oder wachst du immer morgens auf, mit einem Strauß dusseliger Fragen? Du kommst wirklich von irgendeinem weit entfernten Eiland, oder? Okay, mach‘s gut. Muss weiter.“

„Aber warte doch noch….hey, warte….wo ist denn dieser komische Baum, dieser…….verdammt, so warte doch!“

Gerade war sie um die Ecke rum, da hörte Adam auch schon ihre Schritte nicht mehr. Merkwürdig. Er sprang auf, rannte hinterher und sah um die Ecke: Weit und breit war nichts zu sehen. Sie war fort. Müde sah er sich um. In einiger Entfernung sah er einen großen Baum, er sah sehr alt aus. Rundherum war er von Moos und ein paar Pilzen bewacht. Zufrieden lächelnd ließ Adam sich auf das weiche Moos nieder. Irgendwie war ihm der Baum sympathisch. Sofort fiel er in einen tiefen Schlaf und fing an zu träumen, das er wie ein Vogel durch die Luft flog.