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Odyssee 2019 – CW37

Ein weiterer Montag bei den Hellenen – mittlerweile schlafe ich jede Nacht mindestens sieben Stunden. Auch träumen tue ich jedes Mal – sogar sehr viel und intensiv. Ich muss mir wieder Notizen nach dem Aufwachen machen. Zu oft verschanzen sie sich in Morpheus‘ Reich – haben offensichtlich wohl keine Lust ein tristes Alltagsdasein zu fristen. Ich verstehe das.

Die wenigen Tage in Athen verpassen mir das letzte bisschen Entschleunigung, um mich wie ein Daoist zu fühlen, der nur noch im hier und jetzt ist, weder an gestern, noch an morgen denkt – nur noch sein. Wozu noch irgendetwas machen? Mehr und mehr verstehe ich Diogenes von Sinope, der ein Leben in Armut und im Jetzt wählte – angeblich in seiner sagenumwobenen Tonne.

Hemden zur Reinigung bringen? Versicherungen bezahlen, Steuererklärungen machen und Derartiges erscheinen mir geradezu absurd. Längst wasche ich nur noch mit der Hand. Verzicht bringt Erleichterung – die richtige Stimmung, um Exarchia, die alternative Hochburg Athens, das Headquarter der autonomen Szene zu besuchen – ein Viertel, groß wie ganz Altona, mit dem Spirit der Schanze vor 10 Jahren, ein atemberaubender Augenöffner.

Ich wandere von der Akropolis direkt auf’s Politechniko zu, jene Universität, in der Studenten in den sechziger Jahren gegen die Militärjunta demonstrierten und die als Vergeltung dann die Hochschule mit Panzern stürmen ließ, gar Tote in Kauf nahm! Heute ist die Uni im Dornröschen-Schlaf, von außen zugekleistert mit Graffiti, nur von innen erkennt man ihre einstige Schönheit und Reinheit. Jetzt sind nur noch Architekten und Linguisten in ihr tätig, immerhin etwas.

Ich hoffe, das Gebäude wird auf ewig von Studenten mit Leben erfüllt bleiben. Aus Pietät habe ich keine Fotos vom Innersten gemacht – aus Respekt vor dem, was hier geschah – man kann den Spirit spüren, kann fühlen, was für eine Energie in diesem Viertel steckt, wie das Polytechniko das lebende Herz Athens ist.

Andächtig schleiche ich durch die Gassen, blicke mit scheuen Augen hier und dort hin. Besuch eines ethisch-moralischen FKK-Strandes, den ich nur ungern angezogen betrete. Verwachsen, durchdrungen und verbohrt von Schönheit, Würde, übergossen von Düften, Blumen und Tavernen, kleinen Verlagen, Druckereien und Buchhändlern, durchmischt von Verfall.- Untergangs.- und Abfallgestank, liegt Exarchia mir zu Füßen, zeigt unverhohlen, was es war, was es ist, was es immer sein wird.

Politiker aller Generationen bluteten hier aus, werden auch heute, auf immer und ewig hier scheitern, wenn wir uns nicht gemeinsam weiterentwickeln und den so unumgänglichen notwendigen Dialog beginnen. Hier spüre ich den Puls aller Griechen, hier fühle ich, was es heißt so zu fühlen – wild, leidenschaftlich, voller ungebremstem Temperament, bereit jedem Tag das Maximum abzuringen, egal wo auf der Welt, ob unter der Brücke, oder eigenen vier Wänden.

Noch immer sind die Griechen die gleichen ungeschliffenen Rohdiamanten, die sie schon seit Jahrtausenden immer gewesen sind. Heute, im dritten Jahrtausend, überzogen, garniert von fremden Sprachen und politischer Piraterie und privatem Gaunertum; Andenken früherer Zeiten, als es kein geeintes Hellas, sondern nur eine wilde Anzahl stolzer Stadtstaaten gab.

Wie ein Frischgeborenes taste ich umher, wandle bis in die späten Abendstunden herum, bis erste Orks aus den dunkeln Verließen kriechen und sich in die Gassen drängen, durch die man besser nur mit Schwert oder stählernem Willen schreitet. Heute bin ich bereit dazu, den Käfig zu betreten. Ein dunkler Platz zieht mich magisch an. Düstere Gestalten hängen in gebeugter Haltung herum, sofort auf mich aufmerksam machend, langsam, wie ein Rudel Untoter an mich heranschleichend – Gesichter, wie aus düsteren Märchen.

Geschundene, ärmlich aussehende, deren Augen immer noch vom selben wahnsinnigen Feuer gespeist warden. Wir alle sind Elendige, Verdammte, Verstoßene, um ewig hier herum zu wandeln und wahlweise Paradiese oder Höllenfeuer zu erschaffen, in denen wir langsam oder blitzschnell garen, bis sich unsere Seelen aus dem Knochenmark lösen und emporsteigen, bis wir, nach kurzer Rast wieder hinabgeschickt werden, um neuen Aufgaben nachzugehen. Göttlicher Kreislauf der Ewigkeit. Irgendwann weit nach Mitternacht krabble ich in meinen Kokon, rolle mich wie ein Säugling ein und entschlummere, um den Göttern kurz hallo zu sagen.

Dienstag – Ich schieße hoch, boah war das ein krasser Traum! Wir haben erst Anfang der Woche, dabei fühlt sie sich schon so mächtig wie ein Monat an – ich rolle mich langsam aus meiner kleinen Metamorphosen-Gondel und schleiche still zum Kaffee an der Ecke. Frühstück mit Baklava und Griechischem Kaffee. Ich merke, wie ich immer stiller und andächtiger werd, wie ich schweigend das Leben anstaune, wie ich alles wissen, schmecken, spüren, umarmen und erleben möchte, wie ich im gleichem Atemzug fühle, es nicht zu schaffen, aber mich selig fühle bei der Vorstellung, es jeden Tag erneut zu versuchen. Mag es auch noch so schrill, jung und naiv klingen: Ich bin lieber ein Utopie liebender glücklicher Thor, als ein kluger und vernünftiger Realist.

Ich muss noch mal nach Exarchia, oder Anarchia, wie ich das Viertel liebevoll taufe. Solche Spots laugen mich aus mit ihrer Intensität. Genau dafür liebe ich sie. Berauschend lebendig-feminin, wahnsinnig geworden von der eigenen Virilität, den unkontrollierten Ausbrüchen, erschüttert und verwüstet von ihren Verhehrungen, ihren Feuersbrünsten, die wie flammende Schwerter durch die Gassen fuhren. Noch heute kann man die tiefen Wunden sehen und spüren, wo beide Seiten aufeinanderprallten. Noch heute wimmelt es von Polizisten und Soldaten.

Aber man kann Gedanken und deren Ideale nicht kontrollieren, geschweige besiegen; man kann nur überzeugen, oder annehmen. Umtausch, oder gar andere Lösungen haben die Götter bei der Erschaffung des Menschen nicht vorgesehen.

Abendessen an der Akropolis. Eine klassische Taverna. Sie lockt mit Musik und Tanz. Das Essen ist okay, aber kein Burner, so wie die Folklore, die mit zu viel aufgesetzter Fröhlichkeit verziert ist, die weder echt, noch ehrlich gemeint ist, dennoch funktioniert. Touristen allen Alters sind aus dem Häuschen und werden gemolken, was Euter hergeben und Milchkannen fassen.

Übersättigt, schlurfe ich um die Akropolis herum, mache halt, um den Ausblick über Athen zu genießen, eine Zigarette zu rauchen und friedlich, schweigend und still wieder in meine Wabe zu schlüpfen, bis mich Morpheus wieder auf die Erde zurücklässt.

Mittwoch – letzter Tag in Athen. Heute ist der große Tag, an dem Akropolis und ich aufeinandertreffen. Um nicht von den Ameisenarmeen der Touristen zertrampelt zu werden, muss man vor neun Uhr dort sein, andernfalls wird man Zeuge, der unaufhaltsamen Planierraupe. Glücklicherweise schaffe ich es und beginne den Anstieg, nachdem ich die knackigen zwanzig Euro gezahlt habe. Doch diese Zahl hat man vergessen, wenn man die Stufen emporsteigt und vor ihr steht, mit Nike-Tempel und all den anderen Monumenten rundherum, seien sie daneben, oder zu Füßen liegend.

Meine Güte – ich bin Sprachlos! Es ergeht mir ähnlich wie in Epidauros. Was zum Teufel machen wir nur jeden Tag auf diesem Planeten? Was tun wir mit unserem Leben? Was? Wie können wir so weitermachen? Wie konnte es zu all dem kommen, von damals bis heute, wo wir doch schon viel weiter waren. Warum schreiten wir auch heute wieder überall zurück? Als der Besucher-Tsunami heranrollt und die Welle mit voller Wucht herniederschlägt, mache ich meinen Frieden, sage den heiligen Steinen lebe Wohl und schreite andächtig herab.

Jetzt weiß ich, warum alle Gegner versuchten sie zu zerstören. Sie ist das leuchtende Herzen aller Griechen, eine Stütze, an der man sich anlehnen, sich erholen kann, um auszuruhen, um zu verschnaufen, neue Kraft schöpfen und vom Glück zehren zu können, sie wahrhaftig vor sich zu haben, mit ihr zu leben, sie bei sich zu tragen, mag man auch fern der Heimat sein.

Am Nachmittag machen wir Pick-Nick in einem schönen Park – Filia und Elektra haben Wein und Essen vorbereitet – ich bin überwältigt, wie viel und gerne sie geben, wie liebevoll Griechen mit mir sind. Wir reden den ganzen Nachmittag über Literatur, Philosophie, Freiheit, Demokratie und Krieg und Frieden. Auch schlagen wir erste Pflöcke ein, um über die konkreten Möglichkeiten meiner Bücher und deren Übersetzung vorzubereiten.

Nach ein paar Stunden lösen wir die angenehme Dreisamkeit auf, die wir jedoch, nach Siesta, am Abend fortsetzen. Auch der Abend wird herrlich. Wir bleiben bei Filia zuhause. Käse und Wein leisten uns Gesellschafft, sowie spannende Themen aus Vergangenheit und Gegenwart. Gegen drei Uhr nachts sind meine Worte verbraucht. Still rolle ich mich ein und murmle ein paar unverständliche Worte, bis ich hinfortsegle.

Donnerstag – Zeit Sachen zu packen und aufzubrechen. Ich verabschiede mich von Filia und Elektra. Ein letztes Mal fahre ich durch Athen, den südeuropäischen Schmelztiegel. Am Nachmittag lande ich pünktlich in Heraklion. Mein neues Moped übernehmend, wähle ich den Weg Richtung Chania, Ziel Douliana, ein kleines archaisches Bergdorf, in dem man kaum Englisch spricht und noch weniger von den großen Firmen Europas gehört hat, sowie wenig von den Problemen der Großstädte weiß.

Sokratia, mein neuer Host zeigt mir mein kleines Steinhaus, dessen Kühlschrank mit hausemachtem Wein und Raki gefüllt ist. Ich wandere ein wenig in diesem Kleinod umher, um gegen Abend in einer kleinen Taverna zu landen, wo ich Tsatsiki, gegrillte Lamm-Rippchen, herrlicher Musik und einen ausgezeichneten Hauswein bekomme, der mit einer mir unbekannten Fruchtigkeit und Lebendigkeit aufwartet. Perikles führt es mit seiner Frau und ihren drei Töchtern.

Nach dem ich ein kleines Fläschchen Raki zum Abschluss getrunken und viele Gedanken genossen habe, gleite ich zurück in mein neues Refugium und freue mich auf den kommenden Tag. Morgen werde ich die Gegend in Richtung Chania erkunden, sind meine letzten Gedanken, bevor ich einschlafe.

Freitag – mein erster voller Tag auf dieser besonderen Insel. Ich habe eine BMW G310 als Muli bekommen und knattere fröhlich los. Vorbei an unendlichen Olivenhainen, übersät mit Kaktusfeigen und Blumen kurve ich die engen Kehren hinab in Richtung Wasser. Dort angelangt fahre ich an der tosenden Brandung vorbei und krieche Schritt für Schritt Richtung venezianischem Hafen. Chania ist eine Perle. Uralt und durchmengt von quirligen Menschen und Mofas ist für mich schnell klar, dass diese Stadt zusammen mit Nafplio zu den vermutlich schönsten Orten Griechenlands zählt.

Doch die gewaltigen Touristen-Ströme haben nach wie vor eine abschreckende Wirkung auf mich. Mein großes Dilemma. Ich weiß, dass ohne sie das ganze Land recht schlecht aussieht. Zu wenige Alternativen hat man, weswegen man darauf angewiesen ist. Ich meine bei allen eine Art Wut auf diese stillschweigend akzeptierte Abhängigkeit zu fühlen, wie ein Kranker, der auf die Schwester angewiesen ist und hofft, auch wenn er sie mag, bald ohne sie leben zu können. Hierbei bedarf es vermutlich Phantasie und Hilfe. Man wird sehen. Für mich ist heute genug.

Gemütlich lenke ich meinen Gaul zurück, Richtung Douliana. Kurz davor fahre ich nach Vamos, um dort Geld und ein paar lebensnotwendige Dinge zu kaufen, wie Milch, Tabak und Sonnencreme. Letzteres ist existenziell, da man hier sonst schnell kross gebraten wird. Im kleinen Mini-Markt von Vamos begegne ich einem wilden Gesicht. Ein Kreter, unbestimmten Alters. Er könnte 70 oder elendige 45, so mein Alter sein.

Faltig, verbraucht, müde, mit zerzausten Haaren, reichlich trinkenden Augen, die immer noch voll von Wahnsinn blitzen. Abgemagert, wie der Erlöser selbst, ein Knochengerüst überzogen mit Haut, einem schmutzigen T-Shirt und einer dreckigen Jeans. Sekunden denke ich darüber nach, ein Foto zu machen. Schon lange will ich eine Foto-Reihe von markerschütternden Gesichtern und Menschen machen. Doch ich verwerfe, wie früher, diesen Gedanken.

Nachdem ich eine kurze Siesta gehalten habe, wird mein abendliches Essen bei Giannis und Familie genauso schön wie das Vorige. Heute gibt es Schwein. Köstlich angerichtet, mit Rotwein diesmal und Oliven dazu, lasse ich es mir gutgehen. Gegen Mitternacht merke ich, wie mir die Augen zufallen. Mittlerweile bin ich gefühlt seit mehr als sechs Monaten unterwegs. Ich komme an meine Grenzen. Wäre das Schreiben nicht, würde ich vermutlich ausflippen.

Sowieso stele ich mir immer mehr existenzielle Fragen. Wie will ich weiterleben? Und vor allen Dingen, wo? Natürlich sind meine Freunde wichtig. Man kann sich nicht beliebig oft umtopfen und darauf hoffen, dass es so weitergeht. Manchmal gibt es Veränderungen im Leben, die man nicht vorhersehen kann. Doch zuallererst muss man sich selber klar sein was man will. Schon länger fühle ich mich wie ein Vogel, der umherfliegt, hier oder dort landet, sich umschaut und weiterfliegt.

Geht es ewig so weiter? Bin ich nicht mehr gemacht für‘s Sesshaftsein? Ist das meine Bestimmung? Kommt jetzt die große Bewegung, Unruhe und Rastlosigkeit? Wie bringe ich alles unter einen Hut? Und wie soll er aussehen? Wir Menschen sind Sozialtiere, wir brauchen Austausch und Kontakte mit unserer Art. Man läuft sonst zu schnell Gefahr, zu verkauzen, wenn man nicht offen und beweglich bleibt. Doch wieviel Bewegung ist gesund? Wieviel Rituale brauche ich selbst?

Eine meiner zentralen Fragen, an deren Beantwortung ich seit Jahren arbeite. Ein Optimum habe ich noch nicht gefunden. Vielleicht gibt es das auch nicht. Und dann sind da noch meine Bücher. Ich muss Ende des Jahres Horus abliefern. Langsam wird es knapp. Zu mächtig sind die Eindrücke in diesem schönen Land. Mehr und mehr spüre ich, dass ich ein paar Entscheidungen treffen muss. Mit diesem wilden Knäuel Gedanken segle ich in stürmische Träume davon und brause in die tosende Nacht.

Samstag – spät erwache ich. Nur schwer kann ich mich aus dem Strudel des Traums befreien, verpasse es jedoch, mir ein paar Notizen zu machen. Mist! Ich mache mir einen großen Kaffee und esse vom Kuchen, den mir Sokrata als Willkommens-Geschenk überreicht hat. Heute will ich mehr hinter die Kulissen schauen. Touristenattraktionen interessieren mich nicht. Ich will das Pure.

Euphorisch schwinge ich mich auf mein Pferd und reite die sanften Hügel hinab. Nachdem ich am Hafen von Souda vorbeigefahren bin, den beachtlich großen Navy-Sperrbereich bestaune, der mehr als den halben Ort einnimmt, biege ich in Richtung Flughafen ab und folge meiner Nase, die mich tiefer und tiefer in die tiefste Wildnis führt. Irgendwann endet der Asphalt. Kleine Sandwege und umliegende Olivenbäume rücken enger und enger zusammen.

Die Wege sehen aus, als wenn hier seit Jahrzehnten niemand mehr vorbeigesehen hat. Ein beklemmendes Gefühl überkommt mich, ähnlich wie vor Kaiadas, dem Höllenschlund der Spartaner. Ich schaue mich um, wende und fahre wieder raus aus dem Dickicht. Ein paar Stunden kurve ich noch umher, ich liebe es, die Nase im Wind zu haben und ihr blind zu folgen und nur dann abzubiegen, wenn ihr danach ist.

Gegend acht Uhr abends komme ich heim. Kurze Dusche, dann Abendessen bei Giannis. Heute nehme ich Souflaki, was ebenfalls sehrgut ist, nicht nur wegen dem Weißwein, den ich dazu habe. Ein paar Raki runden den Abend ab. Ich merke, dass meine Fässer wieder gelehrt werden müssen. Zuviel schwirrt mir im Kopf herum.

Bleibt zu hoffen, dass ich bald an Horus schreiben kann. Muss dafür disziplinierter und regelmäßiger schreiben. Spätestens wenn ich aus Griechenland weg bin. Aber was, wenn ich bleibe? Was, wenn ich hier sesshaft werde? Muss einen Weg finden, hier regelmäßig zu schreiben und schlafe mit diesen Gedanken zufrieden ein.

Sonntag – Schreibtag. Nach langem Schlaf setze ich mich mit Kaffee und Gebäck hin und starte die Schreibmaschine. Plötzlich klopft es an der Tür. Sokrata steht mit dampfendem Mittagessen und frisch gebackenen Keksen vor mir. Überwältigt schlucke ich schwer und ringe um Worte.

Immer wenn ich mal was brauche, stehen Griechen vor meiner Tür. Es ist herzergreifend. Vor Rührung bekomme ich feuchte Augen. Das Essen ist fantastisch, die Kekse auch. Eine Verdauungszigarette mit dem ersten Glas Wein des Tages macht die Pause erfrischend & rührend.

Frisch gestärkt springe ich wieder zurück ins Wörter-Meer. Mit kräftigen Zügen schwimme ich raus in die offene See, immer weiter und weiter. Eine schöne Vorstellung darin unterzugehen, denke ich und fange an den Text zu korrigieren und ihn hochzuladen. Zum Wohl!

 

Die Berni Miller situation

Manchmal wird Großes durch Kleines ausgelöst. Oft wissen die Beteiligten nicht mal, dass sie der unbekannte Auslöser sind. Wenn sie Morgens im Bad vorm Spiegel stehen, wenn ihr ganzes Elend über sie kommt, wenn sie ganz genau wissen, dass sie nicht die Ballkönigin im Bett liegen haben und dass ihr ganzes verfluchtes Leben nichts weiter ist, als eine unzählige Verkettung von Katastrophen, dann spüren sie was Leben ist.

Bernd war immer zur falschen Zeit am falschen Ort; er trat immer in die Hundescheiße, um die die anderen rumgegangen waren; er trank zu viel und hatte Pech mit den Frauen. Doch das war nicht immer so. Es begann vor langer Zeit, so wie alle guten Geschichten, die sich deswegen so lange hielten, weil sie eben gut waren.

Damals, ich glaube es war im Jahr 2015, gab es eine große Wende. Überall auf der Welt wurden kleine lokale Kriege vom Zaun gebrochen. Oft langten banale Gründe: Du bist nicht wie ich; du sprichst eine andere Sprache, verehrst andere Götter, Götzen und Dämonen…..die Gründe waren immer die Gleichen. Dann wurde die kritische Masse erreicht:

Es kamen radikale Splittergruppen dazu; Glaubenskriege wurden vom Zaun gebrochen; Bomben wurden gezündet, wie Preisangebote in Supermärkten. Zu der Zeit war Bernd Teil eines Sondereinsatzkommando. Vielleicht war es auch ein mobiles Einsatzkommando; ich weiß es nicht mehr genau. Bernd kam aus Hamburg und war als harter Hund bekannt. Er war hart, aber fair. Fleißig, pflichtbewusst und gründlich. Immer. So war Bernd.

Damals strömten tausende politische Flüchtlinge nach Europa. Besonders nach Deutschland. Rechtsradikale und Gutmenschen warteten schon auf sie; mit offenen Armen und mit entsicherten Waffen. Erst wurden Care-Pakete verschenkt. Gutsituierte hielten sich ihren eigenen Syrer, so wie eine Art Diener. Kurze Zeit später, es wurde überraschend Herbst und Winter, brannte die erste Asylantenunterkunft. Deutschland hatte von jeher einen Ruf, eine Tradition zu verlieren. Das Verfolgen von Randgruppen und Minderheiten, stellte schon immer ein hohes kulturelles Gut dar.

Plötzlich brannten zwei. Bald drei. Immer mehr gingen in Flammen auf. Man wunderte sich, weshalb es keine Verletzten gab. Schnell hatte man verschiedene Einsatzkommandos unter Verdacht: Kamera-Teams schlichen um die Brennpunkte herum, wie Schmeißfliegen um das dürftige Licht eines Schweinestalls; man sah allen auf die Finger.

Eines späten Abends, Bernd hatte Spätdienst, war schon sehr müde, hatte am Abend zuvor mal wieder Streit mit Freundin Angela, da wurde er von einem Schwarzen provoziert, der Zigarette rauchend auf einem Zaun saß und ihn breit lächelnd angrinste:

„Hey Bulle, wie läuft‘s denn so? Alles cool? Pass schön auf, nicht das uns noch was passiert.“

Bernd ließ sich nichts anmerken, ging wortlos an ihm vorbei.

„Bulle, ich rede mit dir, oder hast du keine Eier in der Hose? Hast du Angst vor so einem kleinen Nigger wie mir? Hast du etwa Angst?“

Nun, es ist ja manchmal im Leben so wie es eben ist: Manchmal passiert, was passieren kann. Bernd konnte sich später nicht mehr genau daran erinnern, ob es seine Müdigkeit war, die Kredite bei der Bank für das bescheuerte Scheißauto, oder die Hypotheken für die Wohnung; oder der letzte gemeinsame Urlaub auf Mallorca, bei dem er und Angela sich die meiste Zeit gestritten hatten; oder ob es die laue Sommerluft war, sein Durst, seine Kopfschmerzen oder seine dicken Eier, weil Angela ihn seit dem letzten Streit immer noch nicht rangelassen hatte.

Fakt war, und das erinnerte Bernd noch ganz genau und das gab er später präzise, fast ein wenig stolz zu Protokoll, dass er einfach stehenblieb, wider besserem Willen umdrehte, schnurstracks auf den Nigger zuging, ihm wortlos eine dumpf knallende Kopfnuss verpasste, was ihm an diesem besagten Abend leider nicht langte, sondern den zu Boden gehenden Kopf des Niggers packte und ihm mit dem rechten Knie einen solch üblen Pferdekuss gab, das das knirschend zu Bruch gehende Nasenbein an einen knackenden morschen Ast erinnerte und nicht an die ehemals recht gesunde Nase von Makele Putombo aus Ghana.

Tausend Mal konnte man seinen Job gut machen; Millionenmal konnte man zuverlässig gewesen sein:

Wenn dein einziger Ausrutscher im Leben ins Fernsehen kommt, weil ein junger und gieriger, nach einer geilen Story lechzender Journalist, die Story seines Lebens wittert, weil er kurzes Säbelrasseln in seiner Nähe gehört hatte, sich eine Kamera geschnappt und unauffällig rüber geschlichen kam, dann weißt du, warum man dein Leben per Mausklick in die Kloake spülen kann.

Schnell nahmen Kollegen Abstand; schnell war sein Name stadtbekannt. Jeder kannte das Gesicht; Steine flogen durch die Fenster; Reifen wurden zerstochen; er begann zu trinken. Doch es war nicht die Sache an sich; nein, überhaupt nicht. Du meine Güte, solche Scharmützel passierten doch ständig; es gab was in die Fresse und dann entschuldigte man sich und ging nach Hause. So war es, wenn es Nasenbluten gab.

Wirklich niemand hätte die Szene ins Fernsehen gebracht; ganz bestimmt niemand, nicht mal die privaten Kanäle hätten an seiner kleinen Rangelei Interesse gehabt, wenn der Knie-Stoß nicht so gründlich gewesen wäre und das Nasenbein vom guten Makele nicht mit solch einer Wucht ins Gehirn getrieben worden wäre, das es mehr als 6 Zentimeter tief in den Kortex geschossen wurde und in wenigen Bruchteilen einer Sekunde alle lebensnotwenigen Kabel durchknipste, die Makele lächeln, essen, trinken, rauchen, ficken und scheißen ließen.

Sofortige Suspendierung. Untersuchungsausschuss. Psychologische Untersuchungen, mit dem von den Medien sehnlichst erwarteten vorrausehbaren Ergebnis, nun zum Glück amtlich beglaubigt, für den Polizeidienst ab sofort unbrauchbar zu sein und aus dem Verkehr gezogen zu werden: Endstation. Feierabend.

Ein paar Jahre später, an einem ganz normalen Tag:

„Jetzt hau ich dir was in die Fresse, du verdammte Schlampe! “

Bernd nahm einen tiefen Schluck vom Scotch, so einen bei dem man seine Zunge ganz flach auf den Boden legt und die Wangen wie Ballons aufblähte, bevor man schluckte. Er sprang auf und rannte hinter seiner Freundin her. Doch Wut, Verzweiflung und Alkohol sind eine verflixte Mischung. Seine Finger berührten schon den zarten Stoff ihrer nachlässig gebügelten, billigen Seidenbluse, da stolperte er ungeschickt über seine Füße und machte eine schwere Bauchlandung. Sein Körper knarzte und knackte dabei, wie ein alter Dachstuhl.

„So eine verfluchte Scheiße; diese gottverdammten Weiber! “,

schrie Bernd mit irrem Blick; seine Augen waren Blut unterlaufen. Angela bremste aus vollem Lauf, drehte sich um und sah dass ihr Kerl auf der Schnauze lag. Breit grinsend lachte sie schrill, was mehr wie ein halbhysterisches Kreischen klang.

„Nur Saufen und Schreien; hast du dir die Fresse zerschlagen? Kannst du nicht mal mehr laufen? Aber aufs Scheißhaus gehen kannst du alleine, oder?“

Sie konnte schlimm sein. Richtig derbe, dreckig und billig. Manchmal fand Bernd das toll. Aber auch nicht selten zum Kotzen. Blutrünstige Zornesröte schoss in seinen Kopf und ließ ihn leuchten wie ein Flutlichtstrahler im Fußball-Stadion. Er versuchte nach ihren Beinen zu schnappen, was nicht ganz klappte, weil seine Hände mittlerweile schnell wie eingerostete Blechscheren waren. Sie schnappten ins Leere.

Ganz anders Angela. Sie war desillusioniert, gealtert und sauer, dass sie ihre Zeit mit diesem Versager verschwendete. Mit voller Wucht donnerte sie ihm den Schuh auf die Hand, als wenn sie eine leere Blechdose für den Müll zusammentreten wollte. Bellend schrie er auf, wurde rasend vor Wut.

Schnelle hastige Schritte trugen sie zur Wohnungstür. Eine hart geworfene Rotweinflasche, zerplatzte neben ihr an der Wand und ließ sie zusammenfahren. Gerade wirbelte sie herum und sah, wie der Werfer die Treppe herunterrennen wollte.

„Scheiße, wieso kommt der so schnell auf die Beine?“,

kreischte sie. Bernd war geladen wie eine Drehbasse kurz vorm Entern einer Piratenkogge:

„Diesmal leg ich die verfluchte Schlampe um!“

Bittere Galle kam ihm hoch: Seine Botten waren bei der Verfolgung hilfreich wie Holzbeine. Plötzlich stolperte er ein zweites Mal und segelte die Treppe runter, wie die havarierte Preußen vor dem Hafen von Dover und zerschellte mit lautem Ächzen & Stöhnen krachend am Boden, wie das stolze 5-Mast Vollschiff an den Klippen im Ärmelkanal. Es war Montag.

„Das ich auch nicht den Mumm habe erst die Alte und dann mich umzulegen, das kotzt mich an!“,

wimmerte er, wobei er sich nicht ganz klar war was ihn mehr nervte: Seine Feigheit oder sein trauriges Dasein.

Bernd war 52 kinderlose Totensonntage alt. Wenn er genug getrunken hatte, fühlte er sich 13 Minuten wie zur Konfirmation.

Nachdem ihn die Polizei rausgeschmissen hatte, wurde er typischer Privatdetektiv der 2. oder 3. Garnitur: Er soff, war depressiv und hielt sich gerade so über Wasser. Er war nicht schlecht. Ein paar komplexe Fälle konnte er lösen. Sie brachten ihm zwar nicht den großen Erfolg, aber immerhin so viel Geld, das er genug zu Essen und Trinken und ein Dach überm Kopf hatte.

Angela, war weder Model, Musikerin, noch Klassenbeste auf dem Goethe-Gymnasium: Sie war ehemalige Nutte. Anfänglich vögelten sie nur hin und wieder. So wie es sich halt ergab. Irgendwann hatten sie so etwas wie eine Beziehung. Angela arbeitete in einer Spielhalle hinterm Tresen. Sie liebte Bernd. Doch das sagte sie ihm nie.

Angelas Karriere war klassisch und beeindruckend. Mit 17 in die Lehre, mit 20 auf den Strich und mit 35 überm Zenit, obwohl sie immer noch einen geilen Arsch hatte. Irgendwann kam Bernd als Freier zu ihr, nachdem er nach 4 traurigen Jahren ohne Sex dachte, sein Leben wär zu Ende. Irgendwann kam er wieder und sie verlangte kein Geld mehr, weil ihr als Nutte passiert war, was das Ende ihrer Karriere bedeutete: Sie hatte sich in einen Freier verknallt.

Ihre Wohnungen waren nur ein paar Atemzüge auseinander. Bernd war der Meinung, dass ihn Weiber irgendwann ins Grab bringen würden. Deswegen wollte er sicherheitshalber auch keine bei sich wohnen haben.

„So ein Miststück; ich glaub es einfach nicht; die schafft mich!“

lamentierte er und stand langsam wieder auf. Angela war weg, der Schmerz da, die Melancholie kam zurück und seine Wut flaute weiter ab. Sein umnebelter Geist sah wieder den Wahnsinn des Alltags.

„Dann wollen wir mal die Maschine in Gang bringen.“,

rief er sich zur Ordnung und brühte einen starken Kaffee. Ein Mann konnte untergehen, wenn er sich nicht hin und wieder selber aus dem Dreck zog. Angenehm verbreitete sich der behagliche Kaffeeduft in der Wohnung und glättete letzte kraftlose Wogen. Er zog sich ein Hemd an und ging runter auf die Straße. Ein kleiner Spaziergang sollte Tag und Körper in Schwung bringen. Vertraute Schlupflöcher der Zivilisation wurden aufgesucht. Es gab Kneipen in denen man rund um die Uhr sitzen konnte, wenn man vorm Hamsterrad fliehen wollte. Eigentlich trank Bernd lieber zuhause und ließ das Leben wie eine alte Bimmel-Bahn vorüberziehen.

Heute aber war ihm nach Abwechslung. Er ging in die nächste Kneipe und bestellte ein Gedeck. Kalter Rauch hing schwer in Luft und Vorhängen. Die Bardame quälte sich ein halbnüchternes Lächeln ab und hoffte auf Erlösung wie alle. Heute war Bernd alleine; keiner hatte Erbarmen mit ihm; irgendwann sah er es ein. Das Lächeln der Bedienung und die übervollen Aschenbecher vom Vortag geleiteten ihn nach dem 3. Gedeck nach draußen in das gleißende Sonnenlicht.

Immer noch Montag.

Eine Zeitung, zwei Mettbrötchen, sowie eine Flasche Scotch und mehrere Flaschen Wein machten den Vormittag gemütlich. Ein Paket Tabak rundete den Morgen ab und gab der Mittagsstunde die Hand. Er ließ sich mit schwerem Seufzer auf sein Sofa nieder, faltete die Hände ernst, fast selig und schloss sachte die Augen zum Dösen, als es an der Tür klingelte; Bernd raffte sich auf und ging leicht schleppend zur Tür, sah vorsichtig durch den Spion, sah niemanden und wollte gerade vorsichtig die Tür öffnen, als sie mit großer Wucht aufgestoßen wurde, ihn am Kopf traf und er schwer getroffen zu Boden ging. Nach den Sternen kam die Dunkelheit. Dann verlor er das Bewusstsein.