Tango Skala – Odyssee 2021 CW04

31.Januar – Aus einem unerklärlichen Grund wachte D ganz ohne Verzweiflung auf. Widererwarten befand er sich noch im gleichen Körper wie gestern. Wenn D ehrlich blieb, müsste er eingestehen, dass in den letzten Tagen nichts Außergewöhnliches geschehen war. Immer noch schien D in seinem gleichen ICH mit ein und demselben Körper zu leben. Selbst als er sich auf die Seite drehte und hier und dort kratzte und anfasste, gab es keine Überraschungen: Alles schien beim Alten zu sein.

Merkwürdig.

Irgendwie blieb das Leben seit einiger Zeit unglaublich unaufgeregt, wie der wahrhaftig ruhig dahinfließende Fluss. Langsam stand D auf und schlurfte zum ungefähr 6 – 7000endsten Mal in eine Küche, um zuerst aus einem der üblichen, ganz genau, Küchen-Fenster zu blicken, die sich ebenfalls in den vielen Jahren ansammelten, um sich in Ruhe einen Kaffee zu kochen.

Essen und denken war für D erst hinterher möglich.

„Man entwickelt seine Rituale, dachte er..:“ Macken nannten es Freunde und Freundinnen, die ihn während dieser 6-7000 Tage begleiteten, wenngleich das an dieser Stelle nicht wie das Betreuen von Pflegern/innen oder Krankenschwestern gemeint ist, sondern als das wahrhaftige gemeinsame Dahintraben durch den Dschungel des Lebens.

Schwingungen, Symmetrien, Balancen und Vibrationen – eine Fülle von Worte hatte D in seinem Werkzeugkasten der Sprache über die Jahre angesammelt, die er immer noch mit Freude herausholte, um Mitmenschen und sich den Tag zu verschönern, wenn es darum ging zwischenmenschliche Beziehungen zu be- oder umschreiben, die er lustigerweise immer nur dann fand, wenn er sie eben nicht – suchte.

Von außen betrachtet hatte sein Optimismus scheinbar die gleiche Anzahl Leben, wie ein ganzes Katzenrudel. Denn gemessen an den Erwartungen seiner Mitmenschen hatte D eine ungewöhnliche Art entwickelt, das Leben als Solches, wie er es nannte, zu beobachten, während er selber mitten drin stand.

Aus D’s Sicht sei das nämlich die größte Unverfrorenheit der Menschen, sich selbst und das eigene Leben als Solches, als zu wichtig zu nehmen, wobei das Wort „ZU“ hier einen schon mächtig in die Irre führte, setzte es voraus, dass es eine gewisse „Minimum-Wichtigkeit“ für Menschen gab.

Eine Art Standard-Wichtigkeit, als kleinste Maßeinheit.

Eines Tages hatte D sich hingesetzt, um das allgemeingültige Maß von „Wichtigkeit“ zu definieren. Wie immer näherte er sich der Sache von verschiedenen Seiten an, ähnlich wie einst bei der Erfassung der Welt, der Sonne und der Galaxis, was er ganz erfolgreich beschrieben hatte und als Comic auf zwei öffentlich zugängliche Toiletten in Deutschland und Frankreich zeichnete, um etwas in der Ewigkeit der Zeit zu hinterlassen.

Als D den ersten Schluck Kaffee trank, erinnerte er sich lebhaft daran, als wäre es jetzt:

„Was ist das Wichtigste für Pflanzen und Tiere, einschließlich der Menschen auf der Erde, wenn wir voraussetzen, dass es Kontinente gibt, auf denen eben Erwähnte wachsen und leben können? Sagen wir Sonne, Luft und Wasser?

Okay!

Wenn also eines von dreien ausbleibt, ist der Ofen offensichtlich aus; egal ob Mammutbäume, oder Moos, Einzeller oder Elefanten – ethisch korrekt müsste man fairerweise vermutlich alle als gleich wichtig, als Teil der Natur einstufen.

Und Menschen?

Nehmen wir Frankreich: Wenn wir Emmanuel Macron als wichtigsten Franzose nennen, dann könnte man sagen, dass alle Landstreicher, die keinerlei Funktion oder Beitrag in der fünften Republik leisten / haben, zumindest bei erstem oberflächlichem Blick bei der Wichtigkeit am Geringsten einzuschätzen sind – vorausgesetzt, wir beschränken uns darauf und lassen Merkwürdiges wie Menschenrechte außen vor.

„Also, auf der neu-eingeführten Tango-Skala von sagen wir – eins, der Obdachlose bis hundert Sonne, Luft und Wasser, müsste sich alles andere abspielen; da Menschen ein Evolutionsprodukt der Natur sind, hat die Natur zwangsläufig eine höhere Wichtigkeit und muss damit direkt hinter Sonne, Luft und Wasser rangieren.

Sollten wir also die Natur als Ganzes mit 99 bewerten, um unserer oben ausgeführten Aussage gerecht zu werden, müssten wir alle Menschen, außer den Landstreichern, auf den Plätzen 2 bis 98 finden, oder gibt es etwas, was wichtiger als Emmanuel Macron, aber weder Mensch noch Natur ist?

Wie ist mit Lebensmitteln?

Ohne sie gibt es keine Menschen. Also müssten all diejenigen, die Lebensmittel herstellen, eine höhere Wichtigkeit haben, als Manu Macron, oder nicht? Vermutlich, aber dann wäre Manu nicht mehr der wichtigste Mensch Frankreichs; vielleicht sollten wir dann die Natur als Ganzes nicht mit Nummer 99 versehen, sondern brechen sie weiter herunter?“

Es ging noch eine Weil hin und her.

Schnell merkte D, dass er seine neu geschaffene Tango-Skala nicht so schnell am Start stand, wie erhofft; immerhin war er soweit, dass er sich selbst bei den Obdachlosen einstufte wenn man davon ausging, dass jene das untere Ende ausmachten.

Vorerst konnte D gut damit leben, dass er mit dem Skalen-Wert „EINS“ immerhin eine Form von Wichtigkeit erhielt, wenngleich er mit dem Verhältnis 1:100 zu Sonne, Luft und Wasser nicht einverstanden war; die drei konnten unmöglich nur 100-fach wichtiger sein.

Und wie war das mit Nationen wie Frankreich? Sie blieben eine Konstruktion. nicht die leiseste Ahnung hatte die Natur von diesem Schmarn, den Menschen dort veranstalteten.

„Wenn wir also die Natur weiter runterbrechen, dann muss sie auch über einzelnen Staaten stehen, was bedeutet, dass alle Menschen gleich mit dem Landstreicher auf Wichtigkeitsstufe 1 stehen; wenn also alle Menschen auf Level eins sind und die Natur die gesamte Skala von 2 bis 99 besetzt, dann müssen wir das Wort „wichtig“, im Zusammenhang mit allen Menschen der Erde, die ihr Leben in der Natur, auf dem Planeten Erde leben, für alle Zeiten streichen!“

Langsam dämmert D, was er da anrichtete…

…und trank seinen zweiten Schluck…

…Kaffe…

 

 

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