Geschnittener Film, gewonnene Zeit

Seit Jahren versuche ich es. Nie, wirklich nie, habe ich aufgegeben, obwohl es immer misslang.

Doch seit heute ist alles anders: Heute ist es mir gelungen!

Ich kann die Zeit verlangsamen.

Ich kann machen, dass ich Welche anspare; kann sie mir später zuteilen, sie mir regelrecht auszahlen. Es ist genial. Verdoppeln und verdreifachen kann ich sie. Ach was: Sogar vervierfachen, ohne Probleme!

Es war vorhin. Ich sitze ein wenig müde in der Küche. Am Tresen, dort wo ich am liebsten bin. Ich sehe raus. Ein Vogel fliegt am Fenster vorbei, schlägt träge mit seinen kleinen struppigen Flügeln, als wäre er ein großer starker Adler, der die Welt bewacht, als hätte er Verantwortung, schwere Taschen zu tragen. Er dreht seinen kleinen Kopf, zwinkert mir zu, sagt oder singt etwas, etwas was ich nicht verstehe, was wie tschie-hiep, tschie-hiep klingt.

Flapp-Flapp. Jeder Schlag seiner kleinen Flügel hebt ihn höher und höher, als ob er von Ast zu Ast, auf einem unsichtbaren Baum hochhüpft, der ihn höher und höher hebt, ihn immer weiter an meinem Fenster hochklettern lässt. Ich glaube ihn winken zu sehen & muss darüber lächeln.

Sonnenstrahlen tröpfeln vom Dach herab, gleich Teer, der wie bunt schimmerndes Altöl zäh herunterläuft. Langsam fährt meine Hand ans Kinn, wandert weiter, knetet meine Nase, immer weiter hoch hinauf, knautscht meine glänzende Stirn, streiche mir durch mein fettiges Haare. Kratze mich am Nacken, spüre wie Nägel feine Hautschuppen abschaben. Gehe weiter, immer weiter, kurz hinter die Ohren und führe sie zurück zur Nase, rieche an meinen Fingerspitzen, als hätten sie eine Stunde am Busen der Welt gesaugt. Rieche Geschichte, Leben, mich, Fragmente von meinem altmodischen Duft.

Sehe nach rechts an die Wand. Ein Bild hängt dort. Plötzlich springt es vom Nagel. Keine Ahnung warum. Es fällt, Millimeter für Millimeter. Langsam dreht es sich, kippt mit der linken Seite, rutscht weiter, langsam, nahezu andächtig die Wand entlang; unaufhaltsam; bekomme ein beklemmendes Gefühl, weil ich ein paarmal zur Seite sehe und der Bilderrahmen sich kaum weiter bewegt; es ist, als wenn jemand Bilder aus dem Film rausnimmt, ihn aber mit gleicher Geschwindigkeit weiterlaufen lässt.

Klack, klack, klack, ein Diaprojektor.

Könnte einen Tee aufgießen, Buntwäsche machen, Fußnägel schneiden; das Bild fällt bestimmt nicht weiter, ich bin mir sicher; man hat sie angehalten; die Zeit steht still und sieht den Dingen zu, wie sie sich langsam, immer langsamer bewegen. Kaum merklich, aber doch sichtbar, zieht das Bild auf einmal nach rechts. Jetzt kommt alles wieder in Waage, aber immer noch einen guten Meter vom Aufprall entfernt. Höchstens fünf Zentimeter hat es sich bewegt, während Monsieur Thalamus Bilder rausschneidet, sie beiseitelegt, mein Unterbewusstsein füttert, geladen für den Moment wenn ich Ruhe, viel mehr Ruhe habe:

Schlaf.

Das Bild fällt weiter und weiter; meine Freundin steht in der Küche, redet mit mir; ich lächle sie an, fragend blickt sie zurück, hält kurz inne, legt ihren Kopf zur Seite, wie eine Katze, die mit ihrer Beute spielt; lächle tiefer und breiter; fühle mich gut, spüre wie das Bild weiter fällt, Millimeter für Millimeter. Habe Zeit, unendlich viel Zeit; sie fragt mich, warum ich so zufrieden lächle, was ich im Schilde führe; ich denke über eine Antwort nach, wie ich sagen könnte, dass ich so unendlich viel Zeit habe, das ich Zeitmillionär bin, dass das Leben wunderschön ist.

Statt zu antworten blicke ich aus dem Fenster, sehe den kleinen Vogel gerade verschwinden, Sonnenstrahlen bunt herniederströmen, das Bild langsam runterfallen, lege den Kopf auf den Tresen, warte auf den Aufprall, mag es auch ewig dauern.

KAWUMM

Ich schieße vom Tresen hoch, trinke einen Schluck Wasser, schaue nach rechts, reiße erschrocken die Augen auf, als das Bild:

Zu Boden kracht!

 

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