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Verfall – Teil 1

Mein flackerndes Smartphone macht die Auto-App fast unbrauchbar. Nach dem zehnten Versuch gelingt es mir, eine dieser abgerittenen Großstadtkutschen zu ergattern. Nach ein paar Straßenbiegungen gehe ich in eine stille Seitenstraße

– irgendwo da vorne muss er doch – ha, da ist er.

Quietschend öffne ich die Fahrertür. Kalter Rauch, Feuchtigkeit und ein Hauch von altem asiatischem Essen, empfängt mich mit tropisch-nasser Umarmung. Ich hacke einen sechsstelligen Code in das gesplitterte Cockpit-Display; ein paar Lampen leuchten auf, eine Grüne ist auch dabei; war wohl erfolgreich.

Blechern und kalt klingt die weibliche Stimme des Navigations-Systems, die mich durch das verstopfte Stadtzentrum hetzen lässt, dass wie ein geblähter Darm zu platzen droht. Schon länger habe ich das Gefühl nicht mehr atmen zu können; all der Krach und Gestank; die Hektik unfreundlicher Menschen; ihre Gefühlskälte lässt der Gier freien Lauf, die wie eine ansteckende Krankheit ihre Gesichtszüge verziert; innere Leere, frisst menschlichen Glanz; die Seele kämpft mit letzter Kraft um Werte von einst, bis sie am Ende alles willenlos geschehen lässt.

Das bizarre Muster des zerbrochenen Glas erinnert mich an einen atomverseuchten Weberknecht. Heute habe ich Glück; ohne Umwege finde ich einen Parkplatz. Nur schwer sind die Parkbuchten am verdreckten Straßenrand auszumachen. Randsteine mit ungezählten Zeitungsschichten; glattgebügelte Bordstein-Übergänge mit geweiteten Rändern erinnern an überdimensionierte Bäder, reichlich verziert mit Dreck, Glas, Zigaretten und Schmutz, stacheligen Mondlandschaften gleichend.

Beim Aussteigen sehe ich mir die Umgebung an. Heruntergekommene Wohnblöcke, grau und stumpf. Abgeblätterte Farbe, stumpfe milchige Scheiben, an denen Feuchtigkeit mit langen Nasen heruntertropft, ausgedünsteter Schweiß schwer beladener Waschmaschinen, die den Besitzern halbwegs-sauberen Inhalt vor die Füße kotzen. Vom Kiosk gegenüber wehen Fetzen loser Worte herüber. Großstadtschnipsel, lieblos recycelt, vermischt mit Kaffee, Zigarettenqualm, Biergeruch und öligem Zorn.

Vorbeirasende Fahrzeuge hupen um die Wette. Gestank umzingelt diese digitale Großstadt-Mine. Ich renne ein wenig herum, sehe mir die Umgebung an. Irgendwann finde ich mein Hotel. Es ist eines dieser Runtergekommenen. Taxifahrer halten hier ungern. Schon vor langer Zeit hat es seine besten Tage gehabt. Ganz genau nach meinem Geschmack. Kein Glamour, kein Glanz, dafür billig und verwohnt, nach Linoleum, altem Essen und Urin riechend.

Nur kurz denke ich an meine Vergangenheit, mit all den Luxushotels. In den teuersten edelsten Hotels der Welt residierte ich, hatte Spesen in Millionen-Höhe, dazu unzählige Einladungen. Heute bevorzuge ich das langsame Verfallen von Gebäuden und Inneneinrichtungen. Verkommene Gärten, mit ihren verdorrten Bewohnern; Leben mit Schiff.- Mast und Schotbruch; in dieser sterbenden Umgebung, wo dir der leichte Hauch des Todes entgegenweht lässt es sich gelassen leben, ist man doch selber Teil des Niederganges; jeden Tag stirbt ein weiterer Teil; nur mit letzter Kraft schaffen es einige, sich mit dem kleiner gewordenen Rest, tagein und tagaus erneut dagegen aufzubäumen und gegen das Unabwendbare anzukämpfen, dass irgendwo, hoffentlich in ganz großer Ferne, ein weit entferntes Ende naht.

Wie eine verständnisvolle elegante Geliebte umarmt mich diese Tristesse und Melancholie; sie ist mein Zufluchtsort, mein wahres Zuhause, von dem ich eigentlich nie mehr entkommen will, habe ich in ihr doch die ideale Partnerin, die mein Scheitern, meine Unvollkommenheit versteht, sie vielleicht sogar schätzt – und ganz selten, bei größenwahnsinnigen Anflügen von Hoffnung, eine berauschende Euphorie erwächst, die sich in eine utopisch-tiefe Verliebtheit verwandelt, bei dem Gedanken daran, dass sie meine Schattenseiten eventuell sogar liebt!

 

Der Verfall beginnt

„Nein! Es bleibt dabei. Ich will nicht, dass du einen Motorradführerschein machst!“ Jeden Abend musste sie es sagen. Schweigend bleib ich sitzen und lausche ihren Worten. Alle machen sich Sorgen, wollen nicht, dass ich sie ängstige, mich gefährde. Sie kümmern sich zwar ausschließlich um sich, aber sie scheinen gewillt, mir stattdessen Rücksichtslosigkeit und Egoismus vorzuwerfen. Wie oft und lange habe ich es mir überlegt. Doch begriffen und verstanden hab ich es nicht. Ich bin nicht drauf gekommen.

Am Anfang hab ich versucht, ihr Denken zu verstehen. Fast wär ich daran gescheitert. Ich glaub, es war gestern. Ich kam die knarrende Treppe herunter, Jene, die ich jeden Abend runter-renne, um ihren Unverschämlichkeiten zu lauschen. Zuerst begann es mit ihren Ängsten. „ich finde es unerhört, dass der Junge überhaupt fragt; unmöglich, ist das!“ Sie schienen sehr groß. Und mit wachsendem Alter wuchsen sie. Irgendwann spürte ich ihre Dunstglocke. Ihre unvergleichliche Art, alles was sie lieben so sehr zu beschützen, dass sie es am Liebsten einsperren. Oder in einen Käfig stecken.

Als ich begann, ihre Sorgen, mit ihren Vorwürfen zu vergleichen, wurde es kompliziert. Ohne Hemmungen, warfen sie mir Narzissmus und Egoismus vor. Fast hätten sie mich damit gekillt. Ich grübelte und grübelte, aber ich kam nicht drauf. Alles wog ich ab; betrachtete es wieder und wieder; innerlich schäumte ich; kochte vor Wut; blieb ewig unsicher; verstand mein Verhalten nicht; oft dachte ich an meine Eltern, fragte mich, warum sie so sind; und knirschte innerlich; sollten sie doch fluchen und meckern; was scherte es sie. Für sie war ich lästiges Getier.

Irgendeine Schabe, die sich erdreistete, Fragen zu stellen. Sicher, ich gebe zu, mit meinen begrenzten Möglichkeiten. Ich kochte vor Wut. Was dachten sie, wer sie sind? Es schien, als hielte sie mich, um irgendeine Ungleichmäßigkeit in ihrem armseligen Leben zu egalisieren und lindern. Mich fragten sie dabei nie. Im Gegenteil. Ich verabscheute ihr Handeln, all ihr Gerede. Besonders das, von Tante Maria. Ständig lächelten sie, strichen mir über die Haare, als wäre ich ein Schmeichelstein. Es fühlte sich so eklig an. Wie ein Hund, der zwar oft gestreichelt, aber nicht minder angemeckert wird, wenn er irgendwas Unerwartetes tat. Fühle mich wie unwert, überflüssig und fehlgeleitet, weil alles einer höheren Ordnung folgt, jene, die ich nicht verstehe.

Alles, was sie sagten erschien mir unsinnig, ergab keinen Sinn. Sie hatten keine Ahnung. Doch dann plötzlich begriff ich. Sie verdrehten alles. Die ganze Welt. Alles, wirklich alles, vertauschten sie. Ohne Hemmungen hielten sie mir vor, dass ich ihre Angst nicht berücksichtigen, ihre Sorgen nicht verstehen und begreifen dürfte. Sie meinten, dass ich mich doch bitte anständig benehmen, mich nicht so Gedanken.- und rücksichtlos meinen Bedürfnissen hingeben solle. Mein Verhalten nannten sie egoistisch.

Mehr und mehr begriff ich, dass ich nur Statist, ein notwendiges Übel blieb. Natürlich, sicherlich, ständig sorgten sie sich. Doch hatte es wenig mit mir zu tun. „Was ist, mit dieser Geschichte im Krankenhaus?“, hielten sie mir lange vor. Es blieb kitschig. Was kümmerte es sie? Was verstanden sie schon? Was verstanden sie davon, warum ein Junge ein Rennen fahren muss? Was begriffen sie davon, wenn man sein Leben für den Sieg opferte? Eben, nichts!

Wenn sie unglücklich sind, oder etwas nicht gut funktionierte; wenn sie sich sorgten, was auch immer das bedeutete; wenn ich das tat, was ich mir am Sehnlichsten wünschte; wenn ich über die Abneigung, meine Haltlosigkeit nachdachte, Jene, die ihnen einzureden versuchte, dass ich ein widerlich-egoistisches Insekt bin, dass sie an ihre Peinlichkeit und Ideenlosigkeit erinnerte; -ich muss dazu sagen, dass ich innerlich seit Wochen kochte- was glaubten diese Kröten, was sie da redeten? Oder wie ich mich fühl? Hm? Alles was ich machte, schien die Tat des Antichristen zu sein. Alles.

„Du machst den Autorführerschein und basta!“, „Ja, genau. Du hast ja allen gezeigt, wie gefährlich motorisierte Zweiräder sind. Willst du uns allen so eine stressige Zeit nochmal auferlegen? Wirklich?“, es schien eindeutig, von Anfang an. Bloß verstand ich es nicht. Das Einzige, was offensichtlich schien, blieb die Tatsache, dass ich Dinge tue, die andere in Angst und Schrecken versetzen, obwohl ich mich nur selber gefährde, die gefährlich erschienen, weswegen alle Welt mir davon abriet, bis hin zur Verweigerung der Familienzugehörigkeit.

Das Mama und Tante Maria mir ihre Sorgen, Ängste und Nöte, vor die Füße kippen konnten und mich gleichzeitig egoistisch nennen konnten, grenzte an ein Wunder. Schlauer, wurde ich dadurch nicht. Im Gegenteil; Sie begriffen nicht, dass sie all ihre Reputation, all meinen Glauben verspielten, ohne dass sie davon merkten.

„Deine Mutter macht sich große Sorgen, wenn du unterwegs bist. Was denkst du, ist das für ein Gefühl, wenn das eigene Kind, nach schwerem Unfall, im Krankenhaus liegt? Hm? Was meinst du? Wie gedenkst du, unsere Sorgen zu respektieren? Du willst doch nicht etwa ein Motorradführerschein?“

Tag ein, tagaus. Es nahm kein Ende. Was bildeten die sich ein? Fragte mich jemand, wie peinlich und missraten sie blieben, selbst nach all den Jahren? Ich bin ein Autist. Am liebsten ist es mir, wenn mich niemand sieht. Es blieb egal, was sie erzählten. „Lerne Sprachen; Musik und Kuns sind auch wichtig! Streng dich an, bei allem was du machst. Nein, im Ernst, du kannst alles sein, nur nicht durchschnittlich, okay? So ging es den ganzen Tag. Meine Gefühle? Völlig unwichtig.

Niemand fragte mich, nach meinen Gefühlen. Niemand, nach meinen Wünschen, Gefühlen und Hoffnungen? Was mein Egoismus damit zu tun hat? Keine Ahnung. Sie sagen nur ständig, dass ich sehr egoistisch sein soll. Keine Ahnung, wie ich das mache. Ich weiß nur, dass Mama und Tante Maria mich am liebsten einsperren würden, sobald Gefahr, Risiko, Geschwindigkeit und Alkohol im Spiel sein sollen. Dabei will ich nur zwei Führerseine machen.