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Sonderbarer Tiger

Vormittags, auf einer kleinen Anhöhe, irgendwo in einer ziemlich grünen und schönen Steppenlandschaft. Ein paar alte Bäume warten auf einem Hügel.

Er hatte die Nacht durchgeschlafen. Weder Brüllaffen, psychedelische Insekten oder andere lästige Viecher hatten ihn geweckt. Die Luft, noch etwas kühl vom Morgen und geschwängert von den umwerfenden Duftnuancen des Blumenmeer, das wie ein Schleier über dem Land lag, sog er langsam, fast vorsichtig ein, als wäre sie seine Geliebte, auf die er heute vorsichtig statt stürmisch zugehen wollte. Am Abend zuvor hatte er einen schönen kräftigen Ast gewählt. Von dem aus konnte er vorm Einschlafen die ganze Savanne überblicken. Dass mochte er gerne, dem Leben zusehen, wenn er selber ruhte. Als er am Morgen wach wurde ging er am Stamm runter und legte sich flach in das Gras. Das Grass unter alten Bäumen war etwas kräftiger und borstiger und bohrte sich nachdrücklicher in sein Fell, als die freistehenden Gräser. Er mochte es, wenn sich die strohigen Halme in seine dichte Unterwolle bohrten, während er mit seinem flach auf der Erde hingestreckten Körper den Puls der Erde fühlte.

Stille. Herrlich. Er rührte sich nicht. Sein Kopf lag leicht auf der Seite. Wenn man genauer hinsah, konnte man ein Lächeln sehen. Langsam hob sich ein Augenlied, gab der Pupille Bilder und neue Arbeit und ließ sie sachte über den Horizont ziehen. Zurück und wieder hin. In weiter Entfernung sah er ein paar Gazellen und Antilopen herumstehen. Einige Junge rannten neugierig herum, grasten ein wenig. Lederhäutige Elefanten standen unter schattenspendenden großen alten Bäumen, die wie grüne Glocken drohten sich über sie zu stülpen. Geier saßen in ihren Wipfeln. Ein paar Nimmersatte pickten die letzten friedlichen Reste von einem sehr kahlen Knochengerüst, das gestern noch ein stolzer Kudu-Bulle war, der sich ein bisschen, ein kleines bisschen zu weit von der Herde entfernt hatte und der dem Blutrausch von ein paar jagdbesessenen Großkatzen zum Opfer gefallen war. Irgendwo meinte er noch ein paar von ihnen im tiefen Steppengras liegen zu sehen. Sie hielten sich nie lange an ein und denselben Platz auf, blieben immer in Bewegung. Sie trugen diese innere Unruhe in sich, hegten und pflegten sie wie eine Medaille die sie ständig polierten, waren immer auf dem Sprung. Vier Zentner Muskeln, zum Bersten gespannt.

In weiter Ferne flog ein Sekretär seine gemütlichen Runden, stieß hin und wieder einen Krächzer aus, so als wollte er ein Lebenszeichen von sich geben. Eine große Würgeschlange drückte die Füllung eines Orang-Utans heraus, die wie ein schöner roter saftiger Strauß Rosen inmitten der Steppe erblühte und mit einem Happs von ihr verschlungen wurde, als wäre es Erdbeertorte mit Sahne. Ein paar Skorpione fochten mit ihren Schwänzen um eine leblose Maus, die eigentlich einen kleinen Spaziergang unternehmen wollte, als sie irgendetwas am Kopf traf und leblos zusammenbrach. Eine Gottesanbeterin lauerte ungeduldig im Schatten und wartete auf den Ausgang der Skorpion-Rangelei, um sich mit nur einem Kampf über beide hermachen zu können.

Ashoka öffnete das zweite Auge, drehte den Kopf zum Himmel und atmete langsam ein und aus. Dann wieder von vorne. Nach einiger Zeit gähnte er laut, streckte Beine und Pranken aus bis sie anfingen zu zittern. Dann schloss er den Kiefer wie in Zeitlupe, wobei er die ausströmende Luft solange um seine kräftigen Reißzähne herumfließen ließ, bis sich der Schlund schloss und er mit zischendem Brabbeln die Lefzen flattern und tanzen ließ. Dann legte er den Kopf auf seine Pranken, schloss die Augen und döste ein wenig, bis ihn die immer höherstehende Sonne mit ihrer aufkommenden Hitze weckte. Sein Magen meldete sich. Er hatte lange nichts gefressen. Schon lange hatte er aufgehört täglich zu jagen, Beute zu reißen, aus Spaß am Töten, um sich an dem pochenden und wild um sich pumpenden Fleisch zu laben. Noch war der Hunger auszuhalten. Das Knurren war noch nicht bedenklich. Irgendwann musste er etwas unternehmen, sonst wurde er schnell ungenießbar.

In den letzten Wochen, bevor er sein altes Revier verlassen hatte, waren ihm immer häufiger junge Halbstarke über den Weg gelaufen, die keine Möglichkeit ausließen ihn zu provozieren. Er machte gute Miene zu ihrem langweiligen Spiel.

„Kommt schon. Seht euch um: das Wetter ist herrlich, die Landschaft wunderschön, seht sie euch an. Geht spielen, eine Runde jagen oder legt euch in die Sonne zum Ausruhen. Macht Irgendwas. Aber lasst das Säbelgerassel, okay? Es langweilt mich.“

„Was ist? Keine Lust ein bisschen zu raufen, deine Kräfte mit ein paar Jungen zu messen? Oder knirschen deine Knochen schon vor Schmerz?“

So fing es immer an. Aus einer Lappalie machten sie erst ein Kleines und dann ein großes Fass auf. Er ging Konflikten immer aus dem Weg. Er mochte nicht kämpfen. Sein jüngerer Bruder Boshko war ganz anders. Der ging keiner Rangelei aus dem Weg. Ashoka wusste, dass er das nur machte, um den Tiger-Frauen zu beeindrucken. Jedenfalls hoffte das sein Bruder. Diese Phase hatte Ashoka schon lange durch. Er wollte nicht mehr. Er hatte ihr Spiel durchschaut. Die Tiger-Weibchen suchten sich die Männchen aus, nicht umgekehrt. Aber sie waren gut darin ihnen das Gefühl zu geben, dass es anders herum war. Die ganzen Rangeleien unter den Männchen war reine Unterhaltung, reiner Zeitvertreib für sie. Die Wahl stand schon lange fest. Und bei einer Farce wollte er nicht mitmachen. Er blieb Einzelgänger mit seinen Ansichten. Wenn eine wollte und sich für ihn entschieden hatte, müsste sie ihn nicht diesen ganzen Quatsch mit dem Kämpfen machen lassen. Wozu? Um sich wertvoller zu fühlen? Konnte man wertvoller sein, als die Auswählende zu sein? Hin und wieder wurde eine auf ihn aufmerksam. Aber es waren alles Außenseiterinnen, so wie er. Sein sonderbares Verhalten war vielen ein Dorn im Auge. Er war groß und sehnig, alles andere als ein ungefährlicher Gegner. Aber seine ausschweifenden Grübeleien gefielen seiner Sippe nicht. Besonders der Alte stieß sich an seinem ganzen ethischen und moralischen Gehabe.

„Sohn, das ganze Leben ist ein Kampf. Du bist ein Tiger, ein Jäger, ein Killer. Du tötest um zu fressen. Also musst du kämpfen. Sonst verhungerst du. Auf freundliche Nachfragen alleine werden sich Gnu’s nicht überreden lassen, sich von dir verspeisen zu lassen. Du kämpfst, weil du es kannst. Du musst auch in der Übung bleiben, im Training. Leg ein paar kleine Impalas um. Oder mach zwischendurch mal einen anderen Tiger lang, um dein Revier deutlich zu markieren. Bleib fit. Du musst für das Überleben unserer Sippe sorgen. Du, musst für Nachwuchs sorgen, es ist deine Aufgabe.“

„Du hast mich aber nie danach gefragt, ob ich das will. Ich habe doch eine Wahl, zumindest WIE ich die Dinge mache, die ich angeblich tun MUSS. Kämpfen, der Stärkere überlebt; wäre es nicht besser wenn der Schlauere es tut? Kämpfen ist doch langweilig, immer dasselbe. Nicht weil ich es nicht kann, aber mir fallen einfach viele Dinge ein, die viel interessanter sind.“

Sein Vater wusste längst wie sein Erstgeborener tickte. Schöngeist, edle Raubkatze, gibt den Schwachen ab uns so ein Mist: Es machte ihn traurig und wütend. Eines Tages platzte ihm der Kragen: Er provozierte ihn. Mitten am Abendessen. Es gab Gnu. Diesmal war reichlich genug da. Keiner konnte sich beschweren, hungrig schlafen gehen zu müssen. Plötzlich fauchte ihn der Alte an. Einfach so. Todernst. Boshko grinste und beobachtete, wartete ab. Die Mutter brüllte quer über das aufgerissene Gnu hinweg:

„Verdammt: Können wir nicht einmal in Ruhe zusammen essen? Die Kinder sind so selten da. Heute sehe ich mal wieder bestätigt, dass ich dich nur wegen deiner Kraft und Energie ausgewählt habe und ganz bestimmt nicht wegen deinem Verstand. Hier herrscht Ruhe und Frieden am Abendmahl-Gnu!“

Die Mutter donnerte weiter, ihre Augen funkelten den Alten an. Doch der ließ nicht locker. Er wollte es wissen. Jetzt. Heute. Nur von Hörensagen hatte er vernommen, dass sein Erstgeborener ein ganz prächtiger, ausdauernder Jäger geworden war, der angeblich schon so manch einem Geparden beim Laufen das Fürchten gelehrt haben soll. Sogar gegen Löwen hatte er sich angeblich alleine zur Wehr gesetzt. Wie man hörte, soll er sie sogar alleine in die Flucht geschlagen haben. Einen hat man angeblich nie wieder gefunden. Sein Sohn hielt sich jedoch in Schweigen, verlor nie ein Wort darüber. Diese Geschichten flüsterte man sich aber nur Abends zu später Stunde und hinter vorgehaltener Pranke zu. Der Vater wollte endlich Beweise und fühlte sich an jenem Abend noch kräftig genug, seinem Sohn offen gegenüberzutreten.

Eines Abends, vor gar nicht allzu langer Zeit, kam Ashoka nach Hause. Er wollte die Eltern besuchen. Da kam der Alte schon so unangenehm herüber, wollte wissen, woher er denn wissen sollte, dass er so ein erfahrener Jäger ist. Er antwortete nur:

„Weil du mich wohl sonst kaum im Ganzen sehen würdest, oder?“

Damals wusste er, dass der Alte nun nicht mehr lange warten würde. Ashoka war überdurchschnittlich schnell. Schon als Jungkatze. Seine Sinne besonders scharf und fein. Seine Reflexe, seine sehnigen Bewegungen, machten ihn eine Spur schneller, präziser und tödlicher, als seine Eidgenossen. Als der Alte ihm an dem Abend mit der Pranke eine über das Gesicht ziehen wollte, konnte er es ein paar Sekunden vorher schon riechen. Der Stress schüttete übelriechende Hormone aus. Es war ein Moment, wie er skuriler und sonderbarer nicht sein konnte. Die Vater Sohn Rollen hatten sich gedreht. Der Alte funkelte ihn schon die ganze Zeit aus dem Augenwinkel an. Ashoka wusste, dass er nun nicht mehr lange warten würde. Der Zorn ließ den Alten schon bittere Galle hochwürgen. Dann sah er wie die Gesichts Muskeln anfingen aktiv zu werden. Erst vibrierten die Ohren, dann zogen sich die Augenbrauen zusammen. Das Funkeln wurde ernst. Es war soweit. Jahre war er entkommen, jetzt gab es kein Ausweg mehr. In Tiger-Familien herrschte ein rauer Ton. Ashoka wusste es und ergab sich an dem Abend in sein Schicksal.

Der beißende Geruch kündigte es an: Ashoka schloss die Augen, atmete langsamer, fuhr seinen Puls runter und versank weiter und immer tiefer in sein Selbst. Er brauchte seine Augen bei sowas nicht. Nase und Ohren langten. Er hörte den Herzschlag vom Alten, wie er anfing etwas stärker zu pochen und zu pumpen. Stärker und schneller. Er konnte spüren, wie die Signale, die Aufforderung jetzt zuzuschlagen, mit all dem schnellerfließenden Blut in den Kopf des Alten schoss. Er roch den übelriechenden anschwellenden Zorn, als er die Augen schloss.

(Da schließ der die Augen, sowas arrogantes: Eine Frechheit, der Gipfel an Dreistigkeit. Sowas war dem Alten noch nicht untergekommen. Und dann noch von seinem Sohn, vor versammelter Familie.)

Der Vater saß ihm gegenüber, hatte den Mund weiter geöffnet um besser und leichter atmen zu können. Er spürte, wie ihn der Blick des Alten durchbohrte, wie sich die Pupillen verengten, während er sich etwas zusammenkrümmte, um ihm einen verheerenden Prankenschlag, als eine Art Denkzettel, quer über das frisch aufgebrochene Gnu zu verpassen. Er spürte, wie sich Muskeln und Sehnen wie ein Katapult spannten, kurz vor dem erlösenden Losschießen. In solchen Momenten konnte Ashoka die Zeit anhalten. Er war so sehr im Moment, dass er alle Zeit der Welt hatte, sie regelrecht runtertackten konnte und alles wie in Zeitlupe langsam, immer langsamer ablief, bis das Bild stehenblieb.

Irgendwann hatte er seine Ma gefragt, warum er Ashoka hieße. Sie antwortete, dass er lächelnd auf die Welt gekommen war. Das er fröhlich und freundlich war, immer. Selbst wenn es regnete, wenn er sich beim Raufen und Spielen verletzt hatte, lachte er, zwinkerte mit einem Auge und machte einfach weiter. Der Name wäre ihr mit ihm zusammen aus dem Bauch gewachsen. In Momenten der größten Gefahr machte Ashoka immer Rundreisen. Er unternahm Touren in weit zurückliegende Zeiten, oder in jene der Zukunft. Mit geschlossenem Auge konnte er Stunden in der Steppe liegen, auf einem Baum hocken und warten und warten, bis der richtige Moment gekommen war. Er kam immer. Manchmal früher oder manchmal später, aber er kam. Als sein Urgroßvater noch lebte, erzählte er ihm eines Tages, da war er noch eine Jungkatze, dass er obwohl er erst wenige Tage auf der Welt war, stundenlang beobachtend im Grass liegen konnte. Als Baby konnte er schon Warten wie die Alten.

Die ersten Stress-Hormon-Moleküle fingen an in seine Nase zu strömen. Das väterliche Katapult war abgeschossen. Ashoka hatte noch Zeit. Er wollte den Moment auskosten, wollte wissen, ob sein Instinkt noch wach war. Er roch die näherkommende Atemluft, fühlte die Luft in das von der ausholenden Pranke aufgerissenen Vakuums hineinströmen, als wäre es ein großes Loch, hörte wie sich die langen Klingen aus den Tatzen herausschälten, eiskalt bereit ihm schwere Verletzungen zuzufügen. Er konnte es nicht verbergen: Er fing an zu lächeln. Genau das, brachte sie alle in den Wahnsinn, auch den Alten: Seine verfluchte Gelassenheit, selbst unter höchster Gefahr. Die Pranke kam langsam angeschwebt, drückte das Luftpolster so stark vor sich her, dass Ashoka schon glaubte von ihm weggedrückt zu werden. Aber das dachte er nur zum Spaß. Sachte, ganz behutsam öffnete er seine Augen, gab nur feinste Sehschlitze frei, sah die abgrundtiefzornige Fratze des Alten auf ihn zustürmen, sah aus den Augenwinkeln, wie Boshko mit aufgerissenen Augen vor den Gnu-Rippen saß und die Luft anhielt, während die Mutter den Kopf in die Hände vergrub, aus Angst das getroffene Antlitz des Sohnes sehen zu müssen. Fast war Ashoka ein wenig beleidigt. Was dachte sie denn? Hatte sie vergessen wer er war? Wer er noch immer ist? Sie ahnte etwas, spürte einen ruhigen Puls, der auf keinen Fall vom Vater, weder vom anderen Sohn, noch von ihr selbst kommen konnte. Sie stutzte, war dabei langsam aufzusehen. Schade, dachte Ashoka: Jetzt muss ich langsam überlegen, wie ich ihn aufhalte. Die Söhne hatten in Tiger-Familien immer zu gehorchen. Immer und unter allen Umständen. Er seufzte, fragte sich in welche Gegend er wohl gehen könne. Gestern war er noch so friedlich und jetzt spielte der Alte verrückt. Männliche Großkatzen wurden irgendwann verbittert, wenn sie unzufrieden waren. Verbittert und jähzornig.

Der Alte hatte viel Schwung genommen, etwas zu viel. Er war schon weit über das Gnu geschossen, hatte den stabilen Punkt verlassen; jetzt war es sehr einfach ihn zu Fall zu bringen; Ashoka brauchte nur noch an der Pranke ziehen und er würde wie Fallobst in den offenen Brustkorb des Gnus plumpsen, in all das saftige Gekröse. So würde er es machen. Kein Wunder dass Tiger irgendwann aussterben würden, wenn sie sich selber wegen nichts in die Haare bekamen. Blitzartig riss er seine Augen auf; der Alte erschrak, sah den Sohn direkt an und ahnte einen Fehler begangen zu haben, seinen Ersten so unterschätzt zu haben. Er sah in die ruhigsten und entschlossensten Augen, die er je gesehen hatte. Augen, die aus einem Schlaf erwacht waren, denen man ansah, dass sie schon viel gesehen hatten.

Die kräftige Vaterpranke kam angesaust. Gnuhaare vom Abendessen waren noch zwischen den Krallen. Der Stress stank fürchterlich. Jetzt kam noch Angst dazu. Sie hatte den Alten gepackt, leider zu spät. Ashoka packte den Alten blitzschnell an seiner Pranke und riss ihn quer über das Gnu hinweg, bis er hinter ihm in einer Staubwolke zu Boden ging und still liegen blieb. Zum Glück überkam ihn zumindest jetzt die Einsicht.

Dann stand er auf, drückte seine Ma, seinen Bruder und ging, ohne sich auch nur einmal umzudrehen.