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Odyssee 2019 – CW35

Montagmorgen, Drepano, Peleponnes, Griechenland – die Hellenen haben mir in den ersten drei Tagen bereits mächtig eingeheizt. Alle Fässer sind zum Bersten gefüllt – jeder Tag fühlt sich wie eine Woche an – wie soll das bloß weiter gehen, wo ich noch vier Wochen hier bin? Epidauros, Mykene und Nafplio haben mich zum Schweigen und Staunen gebracht – mehr kann ich noch nicht sagen, bevor ich nicht alles verdaut habe. Unermüdlich schwinge ich mich auf meinen Gaul und reite nach Argos, der ältesten, ununterbrochen bewohnten Stadt Europas. Gemütlich kessel ich die Bucht entlang. Die Sonne glüht – irgendetwas um 35 Grad, einfach herrlich. Ein paar Mal biege ich ab, bis ich auf einmal, wie von Geisterhand, vor dem alten Amphitheater stehe. Wow – das sieht anders als in Epidauros aus, abgesehen davon komme ich ein paar Minuten zu spät. Besuchszeiten enden um 16:00. Ich linse durch das schwere Tor. Hm, sieht ziemlich verfallen aus. Auch das alte Bad zur linken, mitsamt dem Antiken Marktplatz, erinnert eher an den 20.000 Jahre alten Schrottplatz der Ludolfs, als an das, was die Schilder ausweisen. Viel verpasst habe ich nicht, denke ich und schlendere neugierig ins Stadtzentrum.

Links und rechts stehen alte und verstaubte Autos. Manch eines hat einen Plattfuß. Mopeds rasen Helmfrei durch die Gassen. Häuser hat man hier neu und billig gemacht. Überall bröckelt der Putz. Manche sind unten bewohnt, aber oben seit Jahren leer. Neubau-Ruinen, überall. Alle Gebäude sind verrammelt. Muss wohl Siesta sein. Nirgendwo läuft Musik, oder hört man Menschen sprechen. Ein paar kleine Restaurants fallen mir vor die Füße, natürlich alle geschlossen. Nur wenige Pflanzen und Bäume ringen um die knappe Luft, kämpfen hier ums nackte Überleben. Irgendwann stehe ich auf dem zentralen Platz der Stadt.

Erstaunt drehe ich mich um. Das sieht hier eher aus wie in Steilshoop oder Maschen, aber nicht wie die ehemalige Residenzstadt von König Agamemnon, der die Griechen im Kampf gegen Troja angeführt hat! Ein paar Supermärkte locken mit offenen Türen, in denen Klimaanlagen dröhnen und alte Männer mit kleinen Ketten spielen, stumpf an die Wand gegenüber, oder auf die Uhr schauen. Keiner hört Radio. Niemand hat Kunden. Die ganze Stadt strahlt völlige Teilnahmslosigkeit und Verzweiflung aus – mehr noch: Die haben aufgegeben! Noch niemals habe ich eine, bei Lebendigem Leib vermodernde Stadt erlebt. Das ist alles, was übrig geblieben ist, nach über 5000 Jahren? Krass. Quentin Terrantino sollte hier seinen letzten Film drehen. Hier braucht er nicht mal für teure Schauspieler zahlen – er braucht nur drauf zu halten.

Ich schlendere weiter. Irgendwann merke ich, dass mir zwei Hunde folgen. Gelangweilt wechseln sie mit mir die Straßen, sehen sich nach Links und rechts um. Immerhin sind die Hunde gastfreundlich und geben mir freundliches Geleit. Wohin ich auch sehe, überall der pure Untergang. Verblichene Roller, mit zerbröselten Sitzbänken, die man selbst auf dem Schrott ablehnen würde. Vermutlich fährt man sie deswegen einfach weiter. Zwar habe ich Hunger, aber ich finde wirklich keinen Laden, wo ich auch nur meinen großen Zeh reinsetzen würde – nicht mal die Hunde schnüffeln irgendwo neugierig. Stattdessen kacken Sie mitten auf die Straße – Respekt. Das ist mal ein Statement. Ich nehme Abschied von den Beiden. Länger kann ich es hier nicht aushalten, wenn ich nicht depressiv werden will.

„Jungs, tut mir leid – aber hier kann ich nicht mehr bleiben, ihr versteht mich, oder?“

Traurig sehen sie hinter mir her und sehen, wie ich entschlossen den Helm aufsetze. Ihre Dackelaugen sagen mir, dass sie für Alles in der Welt mitkommen würden. Ich starte die Transalp. Selbst ihr Motor klingt leiser als sonst, als wenn sie sich nicht traut, auf diesem Friedhof Krach zu machen. Still und andächtig gleiten wir aus der Stadt, vorbei an Werkstätten, vor denen LKW’s mit hochgefahrenen Ladeflächen stehen und gemeinsam mit ihrer Ladung seit Jahrzehnten verfaulen. Ihr Anblick isst grausam und beeindruckend, als wenn man dem Tod zusieht, wie er sein Werk verrichtet. Aus Pietät mache ich keine Fotos.

Die Flackernden Reklameschilder lassen befürchten, dass hier irgendwo hinten versteckt ein Menschlein haust, dass aus einem Blechnapf oder einer vertrockneten Margarine-Schachtel, seine kalte Suppe löffelt, aus Pulver, dass schon vor Jahren aus einem Supermarkt geschmissen wurde, als man erkannte, dass sein Verfallsdatum noch vom gleichen König geprägt wurde, der mit lustigen Holzpferden, die Feinde zu erschrecken versuchte. Argos – eine Stadt, die sich weigert zu sterben, obwohl sie bis zum Kragen mit Verfall, Tot und Untergang gefüllt ist, ohne zu merken, dass sie schon vor Hunderten von Jahren zur Geisterstadt mutiert ist, die von eben diesen Gespenstern und Schatten gepflegt wird, die nicht wollen, dass man sie heilt oder erlöst.

Ein paar letzte flackernde Neonröhren winken mir hinterher. Ohne mich umzudrehen fahre ich auf direktem Weg nach Nafplio. Ich brauche Schönheit und ein Glas Wein, um nicht gegen irgendeinen Baum, oder eine zerbröckelnde Betonbrücke zu fahren, die irgendwelche Argonauten gebaut haben, mit der Absicht, sie schnell wieder einstürzen zu lassen, gemäß ihrer 5000 Jahre alten Routine, alles, wirklich alles mit in den Abgrund ziehen zu wollen. Ein hausgemachtes Bifteki, mit dickem schwarzen und schweren Nemea-Wein stimmt mich wieder um. Das Leben bleibt schön, aber siehe dich vor, Wanderer: Kommst du nach Argos, sieh zu, dass du genug Wasser dabei hast, um schnell wieder wegzulaufen! Ich bleibe lange in Nafplio und beginne, mich innerlich von dieser Perle zu verabschieden. Müde roller ich zurück in mein kleines Dorf. Eine letzte Zigarette auf meinem Balkon in Drepano-Beach – und schon bin ich weggeflogen.

Dienstag – noch nie war ich ein Strandmensch. Lange in der Sonne brutzeln kam mir schon immer komisch vor. Noch dazu fand ich es langweilig. Dennoch, wo ich nun schon am Strand lebe, mit all den Bars und Beach-Lounges, will ich es zumindest an einem Tag mal wieder ausprobieren. Erfrischend ist, dass man ohne teutonische Kurtaxe auskommt und sich einfach unter einen der netten Hawaiischirme schmeißt, die auf dem Strand rumstehen. Und leer ist es, noch dazu. Nur Einheimische. Ich gehe nach vier Jahren mal wieder im Mittelmeer schwimmen. Das Wasser ist mild. Die Sonne ist es nicht. Ohne Sunscreen fackelt man hier schnell ab. Schatten und Weißwein, mit den abendlichen Muscheln sorgen dafür, dass ich einen richtigen Strandtag verbringe. Gar nicht schlecht, eigentlich. Muss ich nicht drei Tage am Stück haben, aber so zwischendurch gar nicht übel. Ermattet und erleichtert gleite ich vor Mitternacht ins Land der Träume.

Mittwoch – Kaffee mit ein paar Keksen zum Frühstück, schon geht es wieder los. Zum zweiten Mal Epidauros. Das Heiligtum des Asklepios, mit seinen weitläufigen Anlagen benötigt einen eigenen vollständigen Tag. Sportstadien, Büchereien, Bäder, Wartesäle und Behandlungsräume lassen mich staunen und wundern. Eine angenehme Stille herrscht hier. Oft setze ich mich in den Schatten und sehe mir die stummen Zeitzeugen an. Ob man hier früher eine Krankenkasse brauchte, um behandelt zu werden? Gabe es vielleicht schon damals Privatpatienten, auch bei den alten Griechen? Oder war die Behandlung gar gratis, weil man sein Volk gesund haben wollte?

Mir kommen ein paar schräge Gedanken in den Sinn. Heutzutage muss man oftmals zehn Seiten Kleingedrucktes ausfüllen, bevor ein Kittel sich deinen offenen Bruch ansieht. Will nicht wieder meine alte Leier abnudeln, frage mich aber dennoch, warum keiner merkt, was heute falsch läuft. Ich glaube nicht, man in 2500 Jahren noch Reste vom Allgemeinen-Krankenhaus-Altona finden wird und sich ein entferntes Familienmitglied die gleichen Gedanken macht, wie ich gerade. Sende an dieser Stelle herzliche Grüße an meinen Kumpel F. aus Ottensen, der in diesem Krankenhaus arbeitet, in dem die Menschen eben genau das tun, nämlich als Kranke rauskommen. Ein letzter Apéro in Drepano-Beach, ein letztes Mal Dinner in diesem kleinen und fröhlichen Ort, wo es mehr Scooter und Mopeds, als Menschen gibt – schlaft gut, liebe Hellenen.

Donnerstag – ich packe meine Sachen. Kalamata ruft, Zentrum der Oliven. Frisch vollgetankt brause ich über Nafplio, vorbei an Argos –nicht schon wieder, bloß schnell vorbei! – und schlängle mich mit meiner Bergziege die Serpentinen hoch, bis ich in Tripoli ankomme. Ich dachte immer, dass läge in Lybien. Aber in Sach.- und Erdkunde war ich schon immer ne Niete. Es geht Richtung Süden. Nach zwei Stunden galoppieren wir an Kalamata vorbei, hinauf in die Berge darüber, zu unserem Ziel, der Art-Farm, wo ich ein Yurt gebucht habe. Schon immer wollte ich in so einem Mongolen-Heim schlafen. Evangalos und seine Schwester Elektra begrüßen mich herzlich. Der Blick über die Bucht ist atemberaubend. Die Weine hervorragend. Meine Heimat für eine Woche. Nachdem ich von Weiß auf Rot wechsle kommen wir ins Gespräch. Evangelos ist Schauspieler in Berlin und Elektra spielt in Athen Violine. Ich bin beeindruckt, von ihrer Flexibilität, bestehend aus Kunst und Broterwerb und nehme mir vor, darüber ein wenig zu grübeln, aber nicht zu viel – immerhin habe ich Urlaub.

Freitag – erster voller Tag im Olivenland. Das Frühstück ist umwerfend lecker und vielfältig, weswegen es mir leicht fällt, den ersten Tag zu faulenzen und das Gelände ein wenig zu erkunden. Auch kann ich mein Staunen über das Yurt nicht verbergen: Ich habe geschlafen wie ein Baby. Neun Stunden am Stück. In der Nacht ist es angenehm kühl und tagsüber angenehm mollig, aber irgendwie luftig. Eine tolle Erfindung und dazu noch so alt. Die drei Hunde der Farm erinnern mich ein wenig an meine Vergangenheit. Sie leben im Paradies und sie wissen es auch. Meist liegen sie wechselseitig in der Sonne oder im Schatten und nicken mir wohlwollend zu, wenn ich gluckernd mein Glas nachschenke und das Schnippen meines Feuerzeugs für passende Perkussion sorgt. Ich lasse meine Seele baumeln und spüre, wie sehr mich Land und Leute beeindrucken, wie sie mich im wahrsten Sinne sprachlos machen, weswegen ich mir vornehme, ein paar Notizen zu machen, um meinen Kopf zu leeren. Abendbrot um Mitternacht, ein paar Gläser Rotwein sorgen dafür, dass ich gegen zwei Uhr ins Bett komme – kalinichta.

Samstag – mein zweiter Tag in Kalamata. Heute geht es wieder rauf auf den Gaul. Ich will bis ans Ende des Peleponnes-Fingers, sozusagen, bis ans Ende des kontinentalen Griechenlands fahren. Schnell merke ich, dass hier alles anders ist. Hauptstraßen oder ähnlichen Hokuspokus sucht man vergebens. Stattdessen ducken sich kleine Ortschaften an den Hängen der Berge und bilden eine nahezu unendliche Perlenkette. Atemlos erkenne ich, dass man sich mit jedem Kilometer, mit dem du dich von Kalamata entfernst, von der Zivilisation verabschiedet. Zeitlose Dörfer, mit faltigen, ausgemergelten Menschen, die in gekrümmten Haltungen über die schmalen Straßen schleichen; Kühe und Schafe, die wild auf den Wegen herumlungern, und grasen, oder in der Sonne dösen; Hühner, die umherflattern; Dorfhunde, die wild kläffend hinter mir hinterherrennen; schwarz gekleidete kleine alte Frauen, die im Schatten auf Bänken sitzen, sich ähnlich wie die Männer auf der anderen Straßenseite, am Stock abstützen; verrostete Autos, stehen am Straßenrand, während andere Vehikel weiter über die Straße gequält werden, obwohl sie schon vor Jahrzehnten das Zeitliche segneten.

Wild wuchernde Pflanzen, Trauben. Überall leuchten Kaktusfeigen aus den Ecken. Tavernen, mit grimmigen Gesichtern, die mir teilweise zahnlos hinterher starren, als wäre ich vom Mars. Von Schusswaffen durchlöcherte Straßenschilder nehmen zu. Mülltrennung findet hier vorbildlich statt: Man trennt sorgfältig zwischen dem Müll in Behältern und jenem auf der Straße. Solarzellen wirken oft befremdlich, auf diesen verfallenen Behausungen. Ich denke an Energiepass in Deutschland. Dunkelbraune Wilde kommen mir wahlweise barfuß oder in Fliplops, in dreckingen Lumpen auf ihren Mopeds entgegengerast, sorgfältig geschützt von einer Sonnenbrille und den fleckigen Shorts, die mit aufwendigen Camouflage-Mustern daherkommen.

Hin und wieder reckt und streckt sich eine Griechin im Vorgarten, nur mühselig, dafür umso leichter von einem schrillbunt bedrucktem Nachthemd oder Hausmäntelchen bekleidet, der nicht verleugnen kann, dass sie am Nachmittag nicht ohne Grund frisch geduscht auf ihrer Terrasse, mit Zigarette im Mundwinkel herumstreunt, während sie laut gerufene Befehle in Haus und Handyhörer brüllt. Nach zweieinhalbstunden Serpentien, vorbei an Berg und Wüstenlandschaften komme ich ans Ende. Schnell spürt man, das hier nie Polizei vorbeikommt, es sei denn, es gab Tote.

Straßenschilder sucht man vergeblich. Ampeln, oder irgendwelche Straßenbeleuchtungen? Völlige Fehlanzeige. Hier und da krächzt ein altes Volkslied. Es riecht nach gerilltem Fisch und Fleisch. Hin und wieder ein dreckiges Lachen. Kinderschreien. Zwischen Straße und Meer liegen irgendwelche Ruinen. Niemand weiß, ob es ein zweites Argos, oder ein verzweifelter Versuch war, ein neues Gebäude aus dem Nichts entstehen zu lassen. Keinen interessiert es. Ich mache eine Pause und hocke mich unter einen Baum. Wer hier lebt, will für sich bleiben. Bis auf Schafe, Kräuter, Meer und Berge gibt es hier rein gar nichts. Normalerweise müsste ich diese Tour zu Fuß unternehmen, um alles aufzusaugen. Zu vieles bleibt ungeachtet – schade.

Langsam mache ich mich auf den Rückweg. Ein paar Mal halte ich an, um Fotos zu machen. In irgendeinem kleinen Kaff mache ich Halt. Kristinas Supermarkt. Hier gibt es alles, 1,5Liter Wasser für 30cent und meinen Lieblingstabak, sogar hausgemachten Wein aus PET-Flaschen, zu zwei Euro. Was will man eigentlich noch, wenn man so viel Sonne und eigene Erzeugnisse im Leben hat? Kristina ist ziemlich forsch, aber nett, höchstens Mitte dreißig, recht groß und zeigt unverhohlen, dass in ihrer Welt das Matriarchat herrscht. Sie findet es toll, dass ich griechisch lernen will und scheut sich nicht, mich zu verbessern und mir reichlich Worte zum Lernen mit auf den Weg zu geben.

Abends halte ich müde in einem Mikro-Ort und seiner Taverne. Ich bin der einzige Gast. Ist das gut oder schlecht? Ich bestelle ein paar kleine Gerichte bei einer ziemlich unglücklich dreinblickenden Frau um die fünfzig. Ein Krug Weißwein, sowie eine Buddel Wasser kommen sofort. Auch das Essen ist hervorragend. Langsam genieße ich gemütlich kauend, hin und wieder einen Schluck vom Weißen genießend, als ich plötzlich sehe, wie eine Fliege mit den Flügeln in den Tomatenbreiresten liegt und panisch herumrutscht. Gerade denke ich noch, dass ich ihr gleich aus der Patsche helfen werde, sobald ich zu Ende gekaut und einen Schluck getrunken habe, als ich wieder zu ihr schaue und sehe, dass sie stocksteif und regungslos daliegt. Was ist denn hier los? Ist es eine Fliege aus Sparta, so eine mit Gift im hohlen Backenzahn, auf den sie sofort beißt, sobald es hoffnungslos aussieht, wie man es ihr im militärischen Drill beigebracht hat? Erstaunt esse ich auf, trinke den letzten Schluck Wein, starte meinen Gaul und knattere zurück in mein kleines Mongolenhaus – für heute langt es, denke ich und segle mit diesen Gedanken sofort weg.

Sonntag – ein weiterer mächtiger Tag, der hemdsärmelig, wie eine Woche daherkommt. Nach einem großen Frühstück geht es auf einen kleinen Bergpass. Höher und höher schrauben wir uns, vorbei an kleinen Örtchen, die an den steilen Bergwänden zu hängen scheinen. Es wird immer kälter. Atemberaubend die Schönheit der Natur und der Berge – mein Ziel: Sparta! Ich habe einen Termin mit Leonidas I. Er ließ ziemlich klar durchblicken, vor drei Uhr zu kommen, wenn ich noch was von seiner verfallenen Akropolis sehen will. Anschließend, würde er alle Zeit der Welt für mich haben, da er sich ja eh schon seit einiger Zeit im Ruhestand befindet, nachdem er bei den Thermopylen mit seinen 299 Soldaten den Heldentod wählte, um seinen Landsleuten den Rückzug gegen die Perser zu ermöglichen – zu unserem Gespräch und unserer Verabredung komme ich später separat noch.

Die Ruinen von Sparta sind ziemlich überschaubar. Fairerweise muss man sagen, dass 3500 Jahre ziemlich lang sind, weswegen es wenig dazu berichten und notieren gibt, außer, dass es auch hier ein Theater gab, sowie ein paar schicke Tempel, deren Reste überall verstreut herumliegen. Selbst in der neu daneben gebauten Stadt springen sie einen überall an. Manchmal nimmt es bizarre Formen an, wenn ein Rasenmäher im Vorgarten, neben den Trümmern von Sparte steht. Ansonsten ist das neue Sparta ein architektonisches Desaster. Ein Meisterwerk an Hässlichkeit, ganz dem Stil Argos‘ folgend, wenngleich es hier weniger verfallen aussieht. Man hat der Hässlichkeit zumindest Ordnung angedeihen lassen. Und offensichtlich ist noch ein gewisser Reststolz in jedem Neuzeit-Spartiaten enthalten, der ihn vor dem Aufgeben schützt. Keine Ahnung, warum hier jeglicher Glanz verlorenging, wo man Sparta mit Sicherheit zu den stolzesten Stadtstaaten von damals zählen konnte – überall das Gleiche – man kriegt es offensichtlich nur schwer hin, die Werte der Alten erfolgreich an die Jungen zu übergeben.

Nach dem langen Gespräch mit Leonidas machte ich mich auf den Rückweg. Ich hatte ihm vorher schon gesteckt, dass man heutzutage so etwas wie sein Kaiadas Höllenloch nicht mehr der Öffentlichkeit vermitteln könne, wo man alle schwachen Kinder, Feinde und zum Tode Verurteilte hineinschmeißt. Und obwohl das Wort Schwäche und Schuld nur schwer mit ihm zusammengeht, räumte er am Ende unseres Gesprächs ein, dass ihn diese kompromisslose Ausgrenzung und Selektion, wie er es nannte – ich wählte ihm gegenüber das Wort Euthanasie – ja später auch vor die Füße viel, als Ephialtes ihn, bei der Schlacht an den Thermopylen an die Perser verriet, was er vermutlich nur tat, weil Leo seine Hilfe ablehnte, weswegen ihn nachträglich, die eiserne Faust der eigenen brutalen Selektion nachträglich das eigene Leben gekostet hat – was mich nicht davon abhalten sollte, diesen Ort dennoch zu besuchen.

Zwanzig Motorradminuten von Sparta entfernt, in einer Kurve wurde ich fündig. Kaiadas, das Höllenloch. Schweigend stieg ich die Treppe zum Bergrücken empor. Oben angekommen überkam mich eine merkwürdige Stimmung. Ich ging dichter und dichter an die Öffnung heran. Ist schon ein bedrückendes Gefühl, wenn man weiß, dass dort unten hunderte, vielleicht abertausende Kinder und Erwachsene den Tod finden mussten. Als ich ganz dicht dran war, spürte ich die kalte Luft, die aus diesem Schlund wie dickes Wasser herauslief. Fürchterlich kalt strömte der eisige Hauch des Todes an meine Brust. Wie tief mochte es dort hineingehen? Forscher fanden dort die erwarteten Riesenmengen menschlicher Knochen – Spartas Höllenschlund war damit belegt und kein Mythos – man braucht nur die Treppen hochgehen und fühlt, dass es hier ist – aber, wie tief und wie lang er hinunterging, weiß man auch heute nicht. Man kann es nicht messen.

Tief bewegt, mit Gänsehaut auf den Handrücken machte ich mich an den Abstieg. Schweigend fuhr ich durch die wilden Schluchten, mit seinen märchenhaften Facetten, Winkeln und seiner rauen Schönheit. Was für Gegensätze beheimatete dies Land und seine Menschen – rau, wild, bis hin zu tödlich – und zur selben Zeit herzlich, liebevoll und leidenschaftlich. Don Quichote gleich stemmte ich mich gegen diese Naturgewalten und schlängelte mich die kleine Straße von Sparta zurück nach Kalamata. All zu leicht fiel ich in mein Bett, nachdem ich einen Krug Wein, sowie einen üppigen Salat verdrückt hatte, in einen tiefen nahezu komatösen Schlaf.

 

Sissyphos

Ich saß in den Dünen. Struppiges, ein wenig störriges Gras wucherte hier und da. Man meinte zu glauben, dass es überall wachsen könnte. Ich sah in die Ferne. Mein Atem ging ruhig und langsam. Hin und wieder schweifte mein Blick träge umher. Mal links, ein anderes Mal nach rechts. Wind peitschte mich durch. Manchmal aus. Ich glaube er war sauer. Eine Mischung aus Überraschung und Anerkennung, weil ich immer noch da war. Mächtig zerrte er an mir. So wie der Sand, der sich aufgeregt mitreißen ließ, der Finger und Wangen wie tausend kleine Stecknadeln malträtierte; so wie seine senffarbenen Körner, die in meine Augen sprangen und boshaft Lied und Auge zu Tränen raspelten; so wie das abgerissene Gesträuch, den der Sturm über den menschenleeren Strand fegte; so wie all den Dreck und Unrat, den man mir um die Ohren bläst und mich zum Verspeisen zwingt; so wie das Leben.

Ungeduldig wuchs das junge Jahr in die Höhe, forderte wild und mächtig, rüttelte an mir rum, scheuchte mich auf und hoch. Bevor ich mich versah, pustete der stürmische Wind Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen daher, die hier und da sich manchmal in meinen Wimpern verfingen, energisch festklammerten und herumwippten, als wäre ich ein Ast, dessen Obst man durch wüstes Gezerre zum Herunterfallen zwingen musste. Nie hörte es auf. Soweit mein fröhlich Äug auch sehen mochte: Überall dasselbe. Grotesken siegten immerzu. Mit gezeitenhafter Zuverlässigkeit, wurde jedes kleine Licht, dass mein Gemüt im trüben Grau des Weltenwahnsinns erhellen wollte, mit stumpfem Stil und schwerem Hammer eingefangen und in den Hades der Bourgeoise gesteckt, dass jedes Leuchten das Weite suchte. Was nützte einem das Fliehen? Was, das Ausblenden, spürte man doch, dass das Absurde sich vor einem biblisch auftürmte und weiter wuchs?

In weiter Ferne spazierte ein Hund mit einem Mensch. Unregelmäßig drehte er seinen Kopf, sah sich um, ob der Zweibeiner verlorengegangen war. Zwei untrennbar miteinander Verbundene; des Hundes bester Freund. Strandgut lag herum. Des Himmels schmieriges Grau verschmolz mit dem matten Metall der Nordsee, die ihren Glanz von der drahtigen Windenbürste abgekauft bekam. Fauchend schrie der Wind zuweilen auf, heulte sich weiter unter die Haut. Es war grausig kalt, so sehr, dass selbst die Knochen zitterten. Der arktisch-beißende Wind ließ Solschenizyns Gulagimpressionen hochkommen. Zerzauste Schaumkronen, hüpften auf den Wellen, zeigten mir meinen Platz in der Welt. Viel galt es zu tun, um ein wenig Stille und Frieden zu bekommen, war er auch fragil, wo ein jeder an ihm rüttelte und hoffte das babylonische Glück zum Einsturz zu bringen.

Ich griff das verfilzte Dünengras, ließ es durch meine klammen Finger gleiten. Gierig biss es sich in meiner Haut fest, riss an meinem Fleisch. So wie es alle fleischfressenden Pflanzen taten. So wie die Zeit. Ich dachte an den Morgen. Gut, wie der Leibarzt des Papstes hatte ich geschlafen. Geträumt hatte ich, viel und beeindruckend, dass selbst Morpheus anerkennend genickt hätte. Nach einiger Zeit bemerkte ich den fragenden achteckigen Duschkopf, der über mir wie eine Guillotine baumelte. Offensichtlich war ich aus dem Bett raus. Hallendlaut geschwiegene Worte starrten die Brause an, als wäre sie ein Vogel Strauß, der mit seinem Kopf hoch über uns aufgeragt zu uns herabschaute. Meine Füße wurden kalt, versuchten sich einzurollen und festzukrallen, als würde ich auf einem Ast sitzen. Begriffe waren so ersetzbar wie das große Alles.

Ich dachte an meinen Traum. Es war wieder der Turm. Er kam jetzt immer häufiger vor, besuchte mich fast jede Nacht, wie ein gieriger Alb der seine lästigen Geschichten loswerden wollte. Riesig groß türmte er sich vor mir auf. Ich sah einen Eingang. Da war eine Treppe. Wie viele Stufen es wohl waren, bis man ganz oben war? Vielleicht war es ein Leuchtturm, oder so was? Langsam, fast vorsichtig, um den Turm ja nicht aufzuwecken, ging ich zum Eingang. Um mich herum ein Meer von Irgendwas. War es Wasser? Felder, Steine oder die Steppe der Belanglosigkeit? Ich erinnere es nicht mehr. Ich begann mit dem Aufstieg. Er war lang, so wie der Einkauf im Supermarkt zu Sylvester, kurz vor Ladenschluss. Jedes Jahr dachten die Menschen, dass sie Neujahr nichts mehr bekamen. Vorratskammern wurden gefüllt; selbst die unnötigsten Dinge wurden gekauft, jene die man das ganze Jahr erfolgreich gemieden hatte; selbst in die dickste Schlange reite man sich ein, um den Zeitpunkt der letzten Zahlung soweit es ging hinauszuzögern und alle zeitlichen Möglichkeiten miteinbeziehend, an die letzten kleinen Dinge, Jene die man dann doch vergessen hatte, ganz überraschend einfallen zu sehen. Siebzig. Mittlerweile war ich schon eine Weile die Treppe hochgewandert; irgendjemand zählte mit.

Nach einer Weile kam ich oben an. Gute Sicht. Weit und klar. Jedoch das gleiche Feld der Bedeutungslosigkeit wie unten. Nur mit mehr Sicherheit, dass sich auch in größerer Entfernung nichts ändern würde. Komischer Aufstieg. Bekam man nicht meistens ein Hochgefühl geschenkt, wenn man den Aufstieg schaffte? Bekam nicht auch der Bergsteiger Eines, wenn er den fünftausend Meter Hohen besiegt hatte? Waren Ziele alleine nicht Grund genug sie anzugehen?

Mit einem riesigen Fragezeichen im Gepäck und im Gesicht machte ich mich an den Abstieg. Wo war da der Sinn, wenn das Ziel keines war? Während ich gemütlich vor mich hin weiter und immer weiter hinabschritt, fing ich aus unerklärlichen Gründen an zu lächeln. Immer breiter und breiter. Komisch, dass der Aufstieg immer länger, als der Abstieg dauerte. Warum auf einen Berg gehen, wenn das Ziel nicht der Erwartung entspricht? Hatte man immer welche? Warum sich bemühen, wenn die Mühe so wenig lohnte?

Wieder weite Ferne. Hund und Mensch gingen längst getrennt. Ich sah, wie eine riesige Distanz zwischen den beiden klaffte. Der Wind hatte meine Hände, trotz der dicken Handschuhe, völlig ausgekühlt. Beißend grub sich die Kälte eine Welle kratzender Unterkühlung in mein Fleisch. Der Sand schmirgelte mir die Gesichtshaut ab. Das zischende Pfeifen des Windes grub tiefe Löcher in meine Gelassenheit. Wie ein fröhlicher Eiszapfen tropfte meine Nase leise vor sich hin. Alles war absurd. Man konnte machen was man wollte, es wurde nicht besser, nicht sinnführender. Alle haben es versucht; durchbohrten die Begriffe mit ihren intellektuellen Werkzeugen wie einen Schweizer Käse; alle rackerten sich daran ab; was blieb war die Absurdität des Ganzen. Doch was war mit der Freude? War sie ebenfalls absurd? War sie so etwas wie die böse Zwillingsschwester? Was war sie? Konnte die Freude gar der Sinn sein, auch wenn er so absurd blieb, wie ein Lemming, der kurz vor dem Sprung in den Tod erkennt, dass er gerne Lemming war?

In meinem ungeträumten Traum sind alle Menschen glücklich. Jeder mit sich selbst. Manche mit sich und Jemandem zusammen. Sie alle sind Träumer eines surrealen Lebens, das sich gleich einer Wendeltreppe durch die projizierte Zeit schraubt, wissend, dass es egal ist, an wessen Leinenende, Treppenende man geht, solange man sich dessen bewusst ist und den absurden Gang in die nächste Skurrilität lächelnd, mit Freude geht. Dann hätte unser Leben einen Sinn, selbst nachdem all die Zweifler, Nörgler und Denker, die doch nur Furcht vor Selbiger haben, jeden Baum der Erkenntnis gefällt, der vom Pilz des Zweifels befallen war:

Freude!